Eine Statue liegt zerstört auf dem Boden

Nordrhein-Westfalen Syrer in NRW: Angst um die Familie in Aleppo, Hoffen auf Veränderung

Stand: 03.12.2024 14:30 Uhr

Die syrische Gemeinschaft in NRW blickt gespalten auf die Kämpfe in Syrien: Hoffnung auf Veränderung trifft auf Sorge um Verwandte.

Nizar Alsheikh guckt in diesen Tagen rund um die Uhr auf sein Handy. Er sieht müde aus, schläft wenig. Der 27-Jährige kommt aus Idlib, im Nordwesten von Syrien, und wohnt seit acht Jahren in Deutschland, aktuell in Wuppertal. Aber seine Gedanken sind gerade nur noch in Syrien. Er studiert klinische Psychologie in Düsseldorf. Aber aktuell klappt es nicht gut mit dem Lernen.

Aufstände in Aleppo - Sorge bei syrischen Flüchtlingen in NRW | Aktuelle Stunde

Lange war es relativ still um das Bürgerkriegsland Syrien. Nach Jahren der Kämpfe mit Rebellengruppen war es Machthaber Baschar al-Assad mithilfe seiner Verbündeten gelungen, die Kontrolle über weite Teile des Landes wieder zu erlangen.

Plötzlich ein Überraschungsangriff

In zwei ausgebrannten Autos lodern noch kleine Flammen, während im Hintergurnd ein großes Feuer die Nacht erhellt

Dschihadisten sind in Aleppo eingedrungen

"Es schien, als sei Syrien aufgeteilt und Präsident Assad wieder fest im Sattel", sagt Anna Osius, ARD-Korrespondentin für die Region. "Bis in der vergangenen Woche plötzlich in einem Überraschungsangriff ein Bündnis mehrerer Milizen die Assad-Truppen überrumpelten und bis zur Millionenstadt Aleppo durchmarschierten."

Mehr zu den Dschihadisten-Milizen, die einen Großangriff gegen die syrische Regierung starteten und Aleppo besetzen, gibt es hier:

Wieder Kämpfe und Tote

Es gibt also wieder heftige Kämpfe zwischen den Konfliktparteien und zahlreiche Tote. Wie geht es jetzt in dieser Situation weiter? Diese Frage beschäftigt nicht nur Nizar Alsheikh. Deutschland hat die größte syrische Diaspora-Community in der EU. Etwa eine Million Syrer wohnen hier, viele davon in NRW. Dass der Krieg jetzt wieder aufflammt, weckt einerseits Ängste, aber auch Hoffnungen.

Nizar Alsheikh

Nizar Alsheikh

Nizar Alsheikh sagt: Er hoffe, dass die Lage dort stabil bleibt, dass es keine Opfer unter Zivilisten gibt und dass vielleicht eine Chance entstehen könnte, "demokratische Werte, die wir hier in Deutschland erleben", auch in Syrien etablieren zu können.

Dann hätten wir dort einen sicheren Ort, an den wir zurückkehren können.

Nizar Alsheikh, syrischer Medizinstudent in NRW

Doch erst mal ist wieder Krieg. Aleppo, die zweitgrößte Stadt in Syrien, war bereits 2015/16 im syrischen Bürgerkrieg heftig umkämpft, erklärt ARD-Korrespondentin Anna Osius. "Die Schlacht um Aleppo war damals eine der schlimmsten im syrischen Bürgerkrieg, weil russische Kampfjets ohne Pause die Stadt aus der Luft bombardierten."

Assad will Aleppo zurück

Viele Anwohner fürchteten nun, dass sich das Gleiche wiederholen könnte. Russland ist ein enger Verbündeter des syrischen Präsidenten Assad und hat bereits angekündigt, dem Machthaber zu helfen, ebenso der Iran. Assad und seine Verbündeten bereiten jetzt einen Gegenschlag vor, um Aleppo zurückzuerobern. "Und das könnte, befürchten Beobachter, ziemlich blutig werden", sagt Osius.

Mit der Türkei abgesprochen?

Fragwürdig ist aktuell auch die Rolle der Türkei. Es heißt, die bewaffneten Oppositionellen sollen Beziehungen zur Türkei unterhalten. Beobachter gingen davon aus, dass der Vormarsch in irgendeiner Form mit der Türkei abgesprochen sein könnte, erklärt ARD-Korrespondentin Osius. Die Türkei dementiere das.

Das Land hat verschiedene Interessen in Syrien. Der türkische Präsident Erdogan möchte den Einfluss der Kurden begrenzen und das Flüchtlingsproblem in der Türkei lösen. Dort werden die vielen syrischen Flüchtlinge als Belastung empfunden. Assad war bislang nicht auf die Gesprächsangebote aus der Türkei eingegangen. Der Vormarsch der Aufständischen könnte jetzt eine Art Druckmittel sein, Assad doch noch zu einer politischen Lösung zu bewegen, sagen Fachleute.

Russland, der Iran und die Türkei entscheiden über Syrien

Nicht umsonst sei der iranische Außenminister jetzt zu Gast in der Türkei, sagt Osius. Nicht umsonst stünden Russland, Iran und Türkei, die sich in einem Vermittlungsformat um Frieden in Syrien bemühen, jetzt wieder in engem Kontakt.

Russland, der Iran und die Türkei sind die Länder, die offenbar über das Schicksal Syriens entscheiden. Und eigentlich haben diese Unterstützer gerade andere Sorgen, Russland mit der Ukraine, der Iran mit Israel und dem verlorenen Krieg der Hisbollah im Libanon.

Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, ist ein Kenner der Region. Er sagt: Die Frage sei tatsächlich, ob diese drei Kräfte Assad im gleichen Maße unterstützen werden, wie sie das vor zehn Jahren getan haben.

Angst um die Schwester in Syrien

Ebenfalls von NRW blickt auch die 19-Jährige Reem auf die angespannte Lage in Syrien. Sie lebt mit ihrer Familie hier, hat gerade ihren Schulabschluss gemacht, aber ihre Schwester lebt noch in Aleppo.

Reem sagt, es sei gerade eine schwere Zeit für sie und ihre Familie. Die Menschen in Syrien lebten in Angst vor Bomben, die Assad einsetzen könnte. Das mache alles noch belastender.

Wenn die Rebellen jetzt Aleppo oder ganz Syrien einnehmen, könnte alles neu aufgebaut werden - die Regeln, das Leben. Deshalb freuten sie und andere sich über das Vorgehen. "Aber gleichzeitig haben wir große Angst um unsere Familien."

Syrische Dschihadisten sitzen bewaffnet und in Militärkleidung auf der Ladefläche eines Trucks und schauen in die Kamera

Dschihadisten in den Straßen Aleppos

Diese Angst wird wohl auch noch bleiben. Die Möglichkeiten, dieses Land dauerhaft zu befrieden, sie sehen aktuell nicht gut aus. Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik sagt: "Ich glaube, von dauerhafter Befriedung sind wir weit weg." Zurzeit sei international wohl vor allem Angst da oder Sorge, "dass in dem Land insgesamt Chaos ausbricht, dass das Regime zusammenbricht, ohne dass eine glaubwürdige Alternative da ist".

Festhalten an der Hoffnung

Auch wenn der Frieden derzeit weiter entfernt scheint als je zuvor - Nizar und Reem halten an der Hoffnung fest. Bei allem, was gerade passiere, "wünschen wir uns, dass im neuen Jahr alles besser wird und wir in unsere Heimat zurückkehren können, um dort weiterzuleben wie früher", sagt Reem. Auch der Medizinstudent Nizar denkt über eine Rückkehr nach Syrien nach.

Sobald Syrien ein sicherer Ort ist - anerkannt von allen Ländern und auch von uns - und es das Assad-Regime nicht mehr gibt, können wir zurückkehren.

Nizar Alsheikh, Syrer in NRW

Unsere Quellen:

  • WDR-Interview mit Nizar Alsheikh und Reem
  • WDR-Interview mit Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik
  • Berichte von ARD-Korrespondentin Anna Osius