Porträt von Isabel Schayani

Nordrhein-Westfalen Schleuser-Netzwerke erklärt: "Eine regelrechte Industrie"

Stand: 04.12.2024 17:18 Uhr

Unter anderem in NRW hat es eine Großrazzia gegen ein Schleuser-Netzwerk gegeben. Eine irakisch-kurdische Bande soll Menschen von Frankreich über den Ärmelkanal nach Großbritannien geschmuggelt haben. Wie haben mit WDR-Fachjournalistin Isabel Schayani über die Netzwerke dahinter gesprochen.

WDR: Isabel, du stehst über WDRforyou, ein Programm für Menschen, die neu in Deutschland sind, mit vielen Geflüchteten im Austausch. Und du berichtest seit Jahren über Migration und Flucht und auch über die Arbeitsweise der Schleuser. Wie schätzt du die aktuellen Ermittlungen ein?

Isabel Schayani: Es gibt natürlich ein großes Interesse von Großbritannien, die Zahlen der Menschen, die über den Ärmelkanal irregulär ins Land kommen, zu drücken. Das ist sicherlich ein Hintergrund für die Razzia. Und ich glaube, so kann man auch erklären, dass das von Europol geleitet wird. Zum anderen ist die mediale Aufmerksamkeit sicherlich auch nicht ungelegen, denn wir sind ja schon im Wahlkampf.

Ich bin etwas erstaunt über die große Anzahl von Einsatzkräften, die da für mehr als 10 mit europäischem Haftbefehl gesuchte Personen im Einsatz sind. Und das bestätigt eigentlich ein bisschen auch, dass natürlich unsere Sicherheitskräfte versuchen, einem Problem Herr zu werden, das die Bevölkerung beschäftigt. 500 Polizisten sollen 10 gesuchte, mutmaßliche Schlepper festnehmen.  

Du hast ja Großbritannien schon erwähnt. Es geht ja hier darum, dass Migranten in minderwertigen Schlauchbooten eben von Frankreich dorthin gebracht werden sollen. Wie funktioniert denn so ein Schleuser-Netzwerk?

Der Weg nach Großbritannien führt für viele über den Ärmelkanal - und Ärmelkanal bedeutet mittlerweile immer Schlauchboot. Das, was in Essen laut BBC-Recherche angeboten wird, ist wie so ein Schlepper-Großhandel. Da kann der Schlepper laut BBC für 15.000 Euro das Schlauchboot mit Motor und allen Utensilien kaufen.

Calais : Flucht über den Ärmelkanal

Isabel Schayani bei Recherchen in Calais.

Und dann rentiert sich das, wenn man da möglichst viele Leute drauf pfercht, weil man pro Person, das ist jedenfalls mein Recherchestand, ungefähr 2.000 Euro bezahlt, um über den Ärmelkanal zu kommen.

Wir reiben uns jetzt zwar die Augen und wundern uns. Aber für alle, die ernsthaft überlegen, dahin zu kommen, und nicht das Geld haben, einen teureren Schlepper zu bezahlen und mit dem Flugzeug und gefälschten Papieren dahin zu kommen, führt der Weg über den Ärmelkanal.

Und wie genau ist das dann organisiert?

Es gibt so grundsätzlich immer drei Ebenen. Du hast sozusagen den großen Strippenzieher, von dem man nicht genau weiß, wo er sitzt. Der ist eigentlich für die meisten, auch für uns als wir recherchiert haben, absolut unsichtbar und ich glaube, auch für die Sicherheitsbehörden sehr schwer zu fassen.

Dann hast du eine mittlere Ebene. Das ist sozusagen die Hotline, die du anrufst. Wenn man einen Schlepper sucht, dann kommt man schnell an Telefonnummern. Die Leute sind immer erreichbar. Der Begriff Callcenter wäre übertrieben, aber die sind eben 24 Stunden an sieben Tagen telefonisch erreichbar und machen mit dir am Telefon den Deal.

Und dann gibt es aber den kleinen Fisch, der kleine Fisch ist vor Ort, zum Beispiel in Calais. Der sorgt dann dafür, dass tatsächlich das Schlauchboot auch am Strand ankommt, dass die Leute vielleicht Westen bekommen.

Es kann auch sein, dass diese kleinen Fische selbst Menschen sind, die auf der Flucht oder in der Migration sind, weil sie selber kein Geld mehr haben oder die Preise zu hoch sind. Deshalb kommt es öfter vor, dass die Leute sozusagen die Seiten wechseln und sich ihr Geld erarbeiten, indem sie zum Beispiel die Schiffe bereitstellen und da morgens helfen.

Das machst du eine Zeit lang. Und dann hat man genug Geld, um selber auch irgendwann einsteigen zu können. Das war jedenfalls die Auskunft, die wir von Frontex und von Europol bei unserer Recherche bekamen. Die Polizei ist meistens unterwegs auf der unteren und der mittleren Ebene, also da können sie vielleicht Leute fassen. Wenn es heute heißt, es wurde eine Asylbewerberunterkunft durchsucht, dann gehe ich auch davon aus, dass sie nicht bei einem Drahtzieher gelandet sind.

Ihr habt ja auch selbst in NRW recherchiert, etwa in Köln am Hauptbahnhof. Was habt ihr dort erfahren?

Der Weg nach Calais, der ja auch der Weg nach England ist, führt auch über Nordrhein-Westfalen. Zum einen über Essen, wie wir gelernt haben, wo sozusagen dieser "Schleppergroßhandel" ist, und zum anderen aber zum Beispiel über den Kölner Hauptbahnhof. Wir haben lange recherchiert, um dann herauszufinden: Der Weg führt ungefähr 1.000 Meter von unserem Büro entfernt direkt über den Kölner Hauptbahnhof.

 Ein ICE fährt vor dem Kölner Dom aus dem Hauptbahnhof

Schleuser sind auch am Kölner Hauptbahnhof aktiv.

In Chat-Gruppen hieß es dann, man müsse dort bestimmte Personen ansprechen, die bringen einen dann nach Calais. Wir konnten das erst nicht glauben, dann sind wir da immer wieder hingegangen, um zu schauen, ob die tatsächlich jeden Tag da stehen. Und es ist so, da stehen sozusagen die Dienstleister, die einen dann nach Frankreich fahren. Und das in unmittelbarer Nähe der Bundespolizei, die da in Containern ihren Posten hat.

Wie bewertest du denn in dem Zusammenhang die Arbeit der Behörden?

Der Chef von Frontex (Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache), Hans Leijtens, sagte zu uns: "Wir müssen Gesetze beachten, die Schlepper müssen das nicht". Also, man hat es mit einer unheimlichen Geschwindigkeit zu tun, das läuft digital über Whatsapp oder andere Apps. Das spielt international und das bedeutet für die Polizei, dass sie mit anderen Ländern zusammenarbeiten muss. Aber genau das ist eben kompliziert.

Im Fall heute in Essen sieht man, dass es da eine Zusammenarbeit gibt zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Aber wenn du zum Beispiel mit der Türkei versuchst zusammenzuarbeiten und die Türkei ist, wenn es jetzt um die östliche Mittelmeerroute geht, das Drehkreuz. Die Türkei ist aber nicht sonderlich an dieser Zusammenarbeit interessiert. Und dann endet die Arbeit von Europol oder deutschen Stellen an dieser Stelle.

Und die Dimension ist ja noch einmal viel größer, wenn wir nicht nur auf die Fluchtroute von Frankreich nach Großbritannien schauen, sondern auf die Menschen, die in die Europäische Union geschleust werden.

Es ist unser naiver westlicher Blick, dass wir denken, die kommen schon irgendwie hier an und wird schon nicht so schlimm gewesen sein. Es ist für die Leute, die zu uns kommen, meist völlig normal, dass die mit Schleppern kommen. Es kann für sie schwierig sein, wenn wir bei WDRforyou erklären, dass es Kriminelle sind. Denn die kennen sich zum Teil über so einen langen Zeitraum und haben zum Teil fast schon ein sozialarbeiterisches Verhältnis.

Die Türkei ist ein wichtiges Drehkreuz. Iraner, Afghanen, Syrer oder Libanesen kommen zum Beispiel nach Istanbul und dort nimmt man dann Kontakt mit Schleppern auf oder hat es auch schon vorher gemacht. Die sagen einem dann relativ rasch, auf welchem Boot man möglicherweise nach Griechenland kommt, zum Beispiel.

Dann ist der Preis bei einem einfachen Boot mit kurzer Reise bis zum Beispiel nach Lesbos, ich sag jetzt mal 3.500 Euro pro Person. Und dann geht man in einem Stadtteil in Istanbul zu sogenannten Zwischenhändlern, und hinterlegt sein Geld. Man bekommt nichts dafür, es gibt nichts außer Vertrauen. Und dann, wenn man auf der anderen Seite angekommen ist, dann zahlt dieser Zwischenhändler den Betrag an den Schlepper aus. Das ist die Theorie.

Das ist eine regelrechte Industrie und wir dürfen uns das nicht zu klein vorstellen, und deswegen ist internationale Zusammenarbeit der Polizei angemessen. Hier stößt man aber ganz klar an Grenzen, weil, so wie wir das mitgekriegt haben, als wir da waren, hat die Türkei gegen diese mittleren Fische nicht viel unternommen.

Das Interview führte Felix Wessel.

Über dieses Thema berichten wir am 04.12.2024 auch im WDR Fernsehen: Aktuelle Stunde, 18.45 Uhr.