Nordrhein-Westfalen Islamismus-Experte: Jugendliche radikalisieren sich bei TikTok & Co.
Islamismus-Experte Burak Yılmaz erzählt im Interview, wie Islamisten in sozialen Medien Beziehungen zu Jugendlichen aufbauen - und sie dann radikalisieren.
Am Freitag hat der Prozess gegen drei Jugendliche aus NRW begonnen, die unter Terrorverdacht stehen. Sie sollen über die Messenger-App Telegram über einen möglichen Anschlag gesprochen und sich ausgetauscht haben, in Kirchen möglichst viele Menschen zu töten. Seit Ostern sitzen die beiden Mädchen aus Lippstadt und Düsseldorf und ein Junge aus Iserlohn in Untersuchungshaft. 15, 16 und 17 Jahre alt sind sie mittlerweile.
Neben ihren Anschlagsplänen wird ihnen die Identifikation mit der Ideologie der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) vorgeworfen.
Wie sich Jugendliche auf sozialen Medien radikalisieren, erklärt im Interview der Pädagoge und Autor Burak Yılmaz. Er hat sich auf die Radikalisierung und Islamisierung von Jugendlichen spezialisiert.
WDR: Warum schafft der sogenannte "Islamische Staat" es immer noch, junge Menschen für sich zu gewinnen?
Burak Yılmaz, Pädagoge, Autor, Islamismus-Experte
Burak Yılmaz: Der IS schafft es, durch die Ideologie Menschen zu erreichen. Auch wenn der "Staat" als Organ nicht mehr da ist, ist die Ideologie noch immer sehr präsent. Wenn wir uns den Zustand des Nahen Ostens anschauen, in dem gerade viel Chaos herrscht, kann der IS gerade jetzt seine Ideologien über Telegram oder vor allem auch über TikTok verbreiten.
WDR: Wie schnell geht so eine Radikalisierung?
Yılmaz: Die Radikalisierung im Internet hat seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel zugenommen. Antisemitische Verschwörungsmythen und rassistische Denkmuster werden vermehrt verbreitet. Radikale Prediger propagieren den Islamismus als Lösung für die gesamte Welt. Die Jugendlichen werden direkt angesprochen. Es geht um Themen, die die Jugendlichen betreffen, und erst mal gar nicht um die Ideologie. Das ist Beziehungsarbeit - als Einstieg in die Radikalisierung.
WDR: Wie werden diese Beziehungen hergestellt?
Yılmaz: Islamistische Prediger, die nicht direkt zum IS gehören, sind für die ideologische Vorarbeit auf TikTok zuständig. Dabei werden ganz unreligiöse Themen angesprochen wie: Darf ich mit 14 verliebt sein? Fragen, die junge Menschen interessieren und wo sie sich selber fragen: Wo ist eigentlich mein Platz und meine Rolle in der Welt?
Die Antwort der Islamisten auf diese Frage ist eine ganz einfache: Deine Aufgabe in dieser Welt ist es, gläubig zu sein, andere Menschen davon zu überzeugen und somit den Glauben zu verbreiten.
WDR: Warum radikalisieren sich neben vielen jungen Männern auch viele Mädchen?
Yılmaz: Die Radikalisierung von jungen Frauen geht in den Debatten unter. Frauen bekommen eine ganz klare Aufgabe und Regel. Wenn ich jung bin und mich diese Vielfalt an Entscheidungen und Handlungsoptionen total überfordert und ich gar nicht mehr weiß, wo ich hingehöre, was ich tun soll, was ich beginnen soll in meinem Leben, dann gibt es halt dort bei den Islamisten eine ganz klare Aufgabe und vor allem eine ganz klare Richtung, in die es gehen soll.
WDR: Ist das die entscheidende Frage? Gibt es eine Struktur? Gibt es ein Falsch, gibt es ein Richtig, an dem ich mich orientieren kann?
Yılmaz: Die Aufteilung in Gut und Böse ist ja das, was bei TikTok gerade hoch- und runterläuft: Der Westen ist böse und "wir sind die Guten". Diese Schwarz-Weiß-Bilder spielen natürlich auch in Bezug auf das Geschlecht eine Rolle. Da sagt man zum Beispiel: Mädchen, die in die Disco gehen, die einen Freund haben, die Alkohol trinken oder die einfach leben wollen, wie sie es für richtig halten, das sind die falschen Mädchen. Wenn du ein richtiges Mädchen werden willst, dann gibt es eine ganz klare Richtlinie.
Vor allem hast du als Frau die Aufgabe, deine Familie zu ehren, keine Schande über die Familie zu bringen. Um solche Erzählungen geht es, die eben sehr wirksam sein können.
WDR: Was braucht es, damit Jugendliche resistent bleiben?
Yılmaz: Sehr viel Aufklärungsarbeit und Angebote, die zeigen, dass die Jugendlichen gehört werden. Sowohl auf schulischer als auch auf medialer Ebene. Islamisten schaffen mithilfe von sozialen Medien rund um die Uhr Angebote. Dem muss gezielt entgegengewirkt werden.
Präventionsarbeit ist die eine Sache. Gleichzeitig gibt es eine deutsche Zusammenarbeit mit islamistischen Regimen, die Islamismus fördern. Da müssen wir ein bisschen größer denken und uns überlegen, was dass auch mit der Verbreitung von Islamismus zu tun hat.
Die Fragen stellte Andrea Oster. Für die Online-Fassung wurde das "Morgenecho"-Interview gekürzt und sprachlich angepasst.