Nordrhein-Westfalen eXit: Sollen die Trolle doch unter sich weiter schwurbeln | MEINUNG
Etliche Prominente und Institutionen verlassen gerade den Kurznachrichtendienst X ehemals Twitter, weil sie ihn für einen toxischen Ort halten. Der richtige Schritt, findet auch Caro Wißing.
Zwei Minuten - so lange habe ich es zuletzt ausgehalten auf X, der Plattform, die mal Twitter hieß. Ich mache die App auf. Ich sehe als erstes, dass Nutzer unter einem Post zu einer meiner Kolumnen kommentiert haben. Frauenfeindliche Sprüche. Ich würde nur "Bla Bla" schreiben. Einige Kommentatoren haben mich offensichtlich gegoogelt, um mich persönlich beleidigen zu können. Standard.
Ich wechsele in den Feed. Dort wird mir zuerst ein geteilter Fake-Zeitungsartikel angezeigt, der angeblich die Wahrheit über eine Kryptoinvestitions-KI offenlegt, mit der wir theoretisch alle reich werden könnten. Dann ein Post von Elon Musk, dem reichsten Mann der Welt, Tech-Giganten und Eigentümer der Plattform. Er schreibt, X sei weltweit die mit Abstand größte Quelle für Nachrichten. Dann wieder ein Post zu der Kryptoinvestitions-KI. Ich schließe die App. Mir reicht's für heute. Oder eigentlich reicht's mir überhaupt mit X.
Es war einmal Twitter…
Ich war größtenteils passive Nutzerin. Für mich war X (und davor Twitter) eine Plattform, wo ich Meinungsaustausch und interessante Inhalte gelesen habe. Ich habe sie gern für Recherchen genutzt, habe mir angesehen, was Wissenschaftlerinnen, Politiker und andere Menschen dort teilen. Noch bevor es Instagram und TikTok gab, habe ich dort gebannt Weltereignisse wie den Arabischen Frühling live in Tweets und Bildern verfolgt. Das alles passierte unmittelbar, ungefiltert, ohne staatliche Zensur. Das war der große Reiz. Jetzt ist genau das ein Problem: Die Plattform ist ein Sammelsurium von Fake-Nachrichten und Hass-Kommentaren, weil eben keiner mehr ein Auge drauf hat und alle ungefiltert ihren Mist dort verbreiten.
Noch deutlicher beschreiben es gerade die 66 teils prominenten Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des offenen Briefes "eXit":
"Twitter ist ein Ort der Zensur, des Rassismus, Antisemitismus und des rechten Agendasettings geworden."
Schriftsteller Max Czollek und Jan Skudlarek haben die Aktion initiiert. Moderatorinnen wie Dunja Hayali, Politikerinnen wie Sawsan Chebli, Wissenschaftler, Schauspieler und auch Einrichtungen wie die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz schließen sich an. Der Exodus findet weltweit statt: In den vergangenen Monaten haben schon andere große internationale Accounts wie die britische Zeitung The Guardian X verlassen.
Hass, Hetze, Beleidigungen in einem ekelhaften Ausmaß
Sie alle waren lange aktiv auf X, haben die Debatten konstruktiv mitgestaltet. Aber was ihnen zuletzt entgegengeschlagen ist an Hetze, an Beleidigungen, an falschen Behauptungen und Tatsachenverdrehungen, Realitätsleugnungen, ist unfassbar. Sogar ekelhaft. Ich werde hier bewusst keine Beispiele wiederholen. Solche Inhalte brauchen nicht noch mehr Verbreitung.
Zwei Jahre ist es her, seit Elon Musk die Plattform gekauft und radikal umgestaltet hat. Er hat direkt zu Beginn tausende Leute entlassen, die unter anderem dafür zuständig waren, ein Auge auf problematische Posts zu werfen und die Kommentare zu moderieren. Studien haben gezeigt, dass es nach Musks Übernahme von Twitter einen deutlichen Anstieg an Hasspostings gegen Frauen, Schwarze, Muslime und Juden gab. Aber damit nicht genug. Musk selbst verbreitet Lügen und Verschwörungserzählungen. Und der Algorithmus spült seinen Blödsinn bei allen Usern stets im Feed nach ganz oben.
Die Macht von Eigentümer Musk ist beängstigend
Musk holte auch Donald Trump zurück zu Twitter. Der Ex- und designierte US-Präsident war einst von Twitter ausgeschlossen worden. Jetzt sind er und Musk Best Buddies. Musk wird sogar einen Beraterposten unter Trump bekommen. Ich finde die Vorstellung gruselig, dass dieser Mann Entscheidungsgewalt im mächtigsten Land der Welt bekommt. Er hat fast unendliche finanzielle Ressourcen und mit X auch noch eine Verbreitungsplattform für seine Botschaften. Und: Wer weiß, was er mit gespeicherten Daten von Millionen von X-Nutzern so alles anstellen wird.
All das kann und will auch ich nicht mehr hinnehmen. X aus all diesen Gründen zu verlassen, finde ich nur logisch und richtig. Einige andere und auch Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck sehen das anders. Er ist gerade erst zurückgekehrt zu X.
Orte wie diesen den Schreihälsen und Populisten zu überlassen, ist leicht.
Kanzlerkandidat Robert Habeck von den Grünen auf seinem X-Account
Ja eben!, denke ich mir. Lassen wir doch die Hetzer und Verschwörungsgläubigen ihren Blödsinn unter sich verbreiten. Wenn alle Vernünftigen und an respektvollem Diskurs Interessierten gehen, dann haben die Schwurbler und Hasser hier zumindest keine Angriffsfläche mehr. Ja, sie verstärken sich vielleicht gegenseitig. Aber das tun sie auch auf anderen Plattformen schon - in Foren, im Darknet. Ein weiter Dagegenhalten der aufrichtigen User ist fast unmöglich.
Auf zu neuen Ufern: Wo Wahrheit wieder zählt
Wir müssen uns schützen. Wir müssen neue Räume schaffen und andere Plattformen nutzen, auf denen wieder wahre Inhalte und guter Austausch im Vordergrund stehen, weil dort auf Netiquette geachtet und Verstöße geahndet werden. Zumindest solange X all das nicht erfüllt.
Vielleicht besteht noch eine Chance für ein X-Comeback. Im Juli hat die EU-Kommission erklärt, dass X sich nicht an Vorschriften halte. Eigentlich müssen Plattformen dafür sorgen, dass keine Falschinformationen, keine Manipulationen, keine Hassreden verbreitet werden. Das tut X aber offensichtlich nicht genug. Noch hat X Zeit, sich zu diesen Vorwürfen zu äußern und etwas zu ändern. Wenn das aber nicht passiert, muss die EU durchgreifen. Sie kann Geldbußen in Höhe von 6 Prozent des Jahreseinkommens von X verhängen. Das dürfte selbst dem Milliardär Musk wehtun.
Und wenn das nichts bringt, dann muss die EU X vorübergehend sperren. Dass solch ein Druck wirkt, zeigt das Beispiel Brasilien: Ein Gericht hatte dort verfügt, dass X die Konten von rechtsextremen Aktivisten sperren muss, die Verschwörungserzählungen und Falschinformationen verbreiten. X weigerte sich zuerst. Und zack wurde die Plattform mehr als einen Monat lang für die vielen Millionen User in Brasilien gesperrt. Das hat gewirkt. X knickte ein.
Es gibt also eine Handhabe. Möglicherweise bewirken der große eXodus von Usern, der Druck von staatlichen Institutionen eine Wende. Bis dahin aber werde auch ich mich von der Plattform verabschieden. Mich wird bei X wohl auch niemand vermissen. Wie gesagt, aktiv war ich dort selten, habe nur wenig gepostet. Aber zumindest muss ich mich dort jetzt auch nicht mehr beleidigen lassen. Deswegen: Bye X - ich bin dann auch mal weg.
Seid ihr noch auf X? Welche Ideen habt ihr, um Hass und Fake News auf Social-Media-Plattformen einzudämmen? Lasst uns darüber diskutieren! In den Kommentaren auf WDR.de oder auf Social Media.