Nordrhein-Westfalen Asylbewerber mit mehreren Identitäten: Land hat keinen Überblick
Der Tatverdächtige von Krefeld hat Asylanträge in mehreren europäischen Ländern gestellt und dabei unterschiedliche Identitäten angegeben. Seit Anfang 2024 können Asylbewerber dafür mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. Doch der Fall zeigt, dass die Landesregierung kaum etwas über die Lage in NRW weiß.
Hassan N., der mutmaßliche Kino-Brandstifter von Krefeld und Anis Amri, der im Dezember 2016 mit einem LKW einen Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz verübt hat, haben eine auffällige Gemeinsamkeit: Beide Asylbewerber gaben gegenüber den Behörden mehrere unterschiedliche Identitäten an. Bei Amri waren es 14, bei Hassan N. sollen es insgesamt mehr als 27 gewesen sein.
WDR-Investigativ Journalist Manuel Bewarder
Dabei hatte unmittelbar nach dem Anschlag von Amri eine Debatte darüber eingesetzt, wie die Behörden solche Mehrfachidentitäten entdecken und bestrafen können. Die meisten Schlupflöcher sind inzwischen geschlossen, sagt WDR-Investigativ Journalist Manuel Bewarder, der den Kampf gegen den Identitätenschwindel seit Jahren beobachtet: "Es gibt vielleicht verschiedene Namen. Man will die aber unter einer Führungspersonalie, wie es bei den Polizeibehörden heißt, zusammenführen. Und es ist mittlerweile so, dass die Identität von Asylbewerbern relativ gut geprüft wird und die Fingerabdrücke zusammengeführt werden."
Der Tatort in Krefeld
So war es laut Fluchtministerium auch bei Hassan N. Er konnte per Fingerabdruck immer derselben Führungspersonalie zugeordnet werden. Allerdings konnte seine wahre Identität bis heute nicht geklärt werden. Und weil sein iranischer Pass nicht mehr vorhanden ist, konnte der verurteilte Straftäter nicht in den Iran abgeschoben werden. Denn der Iran stellt nur Passersatzpapiere aus, wenn angebliche Staatsbürger freiwillig in den Iran zurückkehren wollen.
Neue Möglichkeit: Haft oder Geldstrafe für Täuschung im Asylverfahren
Wenn Asylbewerber ihre Identität bewusst verschleiern, um einer Abschiebung zu entgehen, hatte das bisher keine straftrechtlichen Konsequenzen. Dabei hatte das Land NRW genau das schon im Jahr 2017, unmittelbar nach dem Anschlag von Anis Amri, gefordert und die Mehrheit der Justiz- und Innenminister der anderen Bundesländer hinter sich gebracht.
Bis ein entsprechendes Gesetz vom Bundestag verabschiedet wurde, dauerte es aber volle sieben Jahre: Erst am 26.02.2024 trat das Rückführungsverbesserungsgesetz der Ampel-Regierung in Kraft. Damit wurde die Möglichkeit geschaffen, vorsätzlich falsche Angaben im Asylverfahren strafrechtlich zu belangen. Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass die Nichtherausgabe von Pässen, anderen Dokumenten oder Datenträgern sowie die Angabe falscher Informationen im Asylverfahren mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe geahndet werden kann.
Wer informierte die Ausländerbehörden?
Die Ausländerbehörden in NRW mussten sich über diese Neuerung aber offenbar selbst informieren. Auf WDR-Anfrage nach einem entsprechenden Schreiben der Landesregierung, mit dem die Ausländerbehörden über den neuen Straftatbestand infomiert wurden, verweist das Fluchtministerium "mangels Zuständigkeit" auf das Justizministerium. Dort widerum verweist man auf einen Runderlass zur "Zusammenarbeit zwischen Ausländerbehörden, Polizeibehörden sowie Justizbehörden bei straffälligen ausländischen Personen im Land Nordrhein-Westfalen." Der Haken: Dieser Erlass ist auf den 29. April 2022 datiert - die neue Regelung trat erst knapp zwei Jahre später in Kraft. Sie kann darin also gar nicht explizit erwähnt werden.
Land weiß nicht, ob und wie oft Identitätsschwindel in NRW bestraft wird
Wussten die Ausländerbehörden in NRW also gar nichts von der neuen Sanktionsmöglichkeit bei Identitätsschwindel? NRW-Fluchtministerin Josefine Paul (Grüne) weicht der Frage im Interview mit dem WDR-Magazin Westpol aus: "Natürlich werden die Ausländerbehörden kontinuierlich darüber informiert, was der Rechtsrahmen ist. Deswegen haben wir in NRW eine sehr breite Erlasslage. Wir haben auch eine sehr breite Informationslage. Wir bieten immer wieder zu den Neuerungen im Ausländerrecht auch Fortbildungen und Weiterbildungen an."
Wie die Landesregierung die Ausländerbehörden konkret über den neuen Straftatbestand und dessen Anwendbarkeit informiert haben will, sagt die Ministerin nicht. Und auch die Frage, wie oft in NRW bisher Geflüchtete wegen Identitätsschwindel verurteilt worden sind, können weder Flucht- noch Justizministerium beantworten. Eine entsprechende Auswertung sei mit vertretbarem Aufwand nicht möglich, heißt es dazu aus dem Justizministerium.
Opposition nennt Landesregierung "dysfunktional"
Für Jochen Ott, Landesvorsitzender der SPD-Fraktion im Landtag, zeige sich immer wieder, dass die Landesregierung in Sachen Asyl- und Flüchtlingspolitik weder Kompetenzen noch Ambitionen habe. Zwischen den Ministerien spreche man nicht miteinander und Ministerin Paul wolle sich aus der Verantwortung ziehen. Für Ott ist deshalb klar: "Von einer funktionierenden Regierung kann bei Schwarz-Grün in NRW jedenfalls schon lange keine Rede mehr sein." Der Bedarf nach einer überarbeiteten Erlasslage sei mehr als groß, erklärte der SPD-Politiker in einer Pressemitteilung am Sonntag (20.10.).
Fluchtministerin Paul (Grüne)
Krefelder OB: Land soll schwierige Fälle in speziellen Einrichtungen unterbringen
Frank Meyer (SPD), OB Krefeld
Aus dem Krefelder Rathaus kommt unterdessen eine ganz andere Forderung. Hier wünscht man sich, dass für so komplexe Fälle, wie dem von Hassan N., zentrale Landeseinrichtungen zur Unterbringung genutzt werden: "Gerade die besonders schwierigen Fälle sollten zentral vom Land bearbeitet werden", so der Krefelder Oberbürgermeister Frank Meyer (SPD).
Keine Zahlen zu abgelehnten, kriminellen Asylbewerbern
Wie viele Asylbewerber in so einer Unterkunft untergebracht werden müssten, ist allerdings unklar. Das Fluchtministerium kann auf Westpol-Anfrage keine Zahlen liefern, wie viele verurteilte Straftätern aus NRW aktuell nicht abgeschoben werden können. Auch wie viele Asylbewerber mit Mehrfachidentitäten sich überhaupt in NRW aufhalten, weiß das Fluchtministerium nicht: "Wir haben nicht über alle Menschen, die auch in den Zuständigkeiten der Ausländerbehörden sind, die konkreten Informationen", räumt Fluchtministerin Paul im Westpol-Interview ein. Man sei allerdings "natürlich weiterhin daran, dass insbesondere die Frage der Identitätsklärung" verbessert werde und habe deshalb "die zentralen Ausländerbehörden an dieser Stelle noch einmal in den Befugnissen gestärkt."
Ausländerbehörden dürfen Datenträger auswerten
Unter anderem dürfen die Zentralen Ausländerbehörden inzwischen selber Datenträger wie Smartphones von Asylbewerbern auswerten, um Hinweise auf die wahre Identität zu bekommen. Im Krefelder Fall hat allerdings auch das nicht funktioniert. Dass Hassan N. zwei Handys besitzt ist erst am Tattag aufgefallen. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Zentrale Ausländerbehörde noch gar nicht für den Fall zuständig.
Unsere Quellen:
- WDR-Interview mit Fluchtministerin Josefine Paul
- WDR-Interview mit Frank Meyer, Oberbürgermeister Krefeld
- WDR-Investigativ Journalist Manuel Bewarder
- Gesetz zur Verbesserung der Rückführung
- WDR-Recherche