V.l.n.r.: Christian Lindner (FDP), Robert Habeck (Grüne), Olaf Scholz (SPD)

Nordrhein-Westfalen Ampel-Streit: Wie wahrscheinlich sind Neuwahlen?

Stand: 04.11.2024 19:15 Uhr

Die Ampel kann eines wirklich gut: Streiten. Nach dem für SPD und Grüne provozierenden Papier von FDP-Chef Christian Lindner, das eine Wirtschaftswende fordert, steht die Koalition womöglich vor dem Ende. Wie wahrscheinlich sind Neuwahlen und was bezweckt Lindner wirklich?

Von Oliver Scheel

"In der Koalition brennt gerade die Hütte." Dieser Satz stammt nicht von den politischen Beobachtern in Berlin. Er stammt von Saskia Esken, der Bundesvorsitzenden der SPD. Und er fasst die Situation in der Regierung treffend zusammen. Die Ampel wackelt bedenklich.

Was wollen Lindner, Habeck, Scholz: Die Machtspiele hinter den Problemen

Streit sind die Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP ja gewohnt, nun aber scheint es FDP-Chef Lindner mit seinem Wirtschaftspapier auf die Spitze getrieben zu haben.

Scholz verlangt "Pragmatismus", Habeck macht Zugeständnisse

Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat nun am Montag von den Bündnispartnern "Pragmatismus" und seriöses Arbeiten verlangt, um die Probleme zu lösen. "Es geht darum, dass wir in ernsten Zeiten die Herausforderung bewältigen, vor denen wir stehen", sagte Scholz in Berlin. Die Regierung sei "gewählt im Amt und wird ihre Aufgaben erledigen".

Der Kanzler war zuvor mit Lindner und Habeck im Kanzleramt zusammengetroffen. Über konkrete Ergebnisse wurde nichts bekannt. Die Gespräche sollen am Dienstag fortgesetzt werden. Habeck zeigte sich bei einem kurzen Presseauftritt am Nachmittag aber nun bereit, frei werdende Mittel für die vorerst nicht gebaute Intel-Chipfabrik in Magdeburg zu nutzen, um Löcher im Bundeshaushalt zu stopfen. Dies hatte Lindner gefordert.

Welches Ziel verfolgt Christian Lindner mit seinem Wirtschaftspapier?

Immer wieder hatte Lindner beteuert, das Papier sei gar nicht für die Öffentlichkeit gewesen und er wolle die Koalition nicht aufs Spiel setzen. Doch das glauben ihm immer weniger Experten.

"Die Ampel ist inhaltlich aufgekündigt. Lindner erpresst die Koalitionspartner. Weder Olaf Scholz noch die Grünen wollen die Ampel verlassen, weil sie wissen, sie stürzen gewaltig ab. Das ist das Kalkül der FDP", analysiert der Publizist Albrecht von Lucke.

So sei Linder "faktisch ins Lager der CDU/CSU übergegangen". "Er pokert, hofft, dass die anderen ihn rausschmeißen, dann hat er nicht den schwarzen Peter. Er will nicht selber die Scheidung erklären. Denn eines weiß er ganz genau: Man liebt zwar den Verrat, aber man liebt nicht den Verräter", so von Lucke am Samstag im WDR.

Die FDP kann an dem Grundsatzpapier, das im Prinzip eine 180-Grad-Wende der Wirtschaftspolitik fordert, nichts Schlimmes finden. "Wir haben ja seit einem Jahr gesagt, dass sich die wirtschaftliche Situation in Deutschland so darstellt, dass wir endlich wieder vorankommen müssen. Ich bin eher überrascht, dass SPD und Grüne das in den letzten Wochen offensichtlich nicht ernst genommen haben, dass wir in diesem November darüber reden wollen, dass sich in Deutschland grundsätzlich was ändert", sagte Christoph Meyer, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP am Montag dem WDR.

Was sagen die Koalitionspartner?

Die SPD will die Koalition kitten. Das ist angesichts der schlechten Umfragewerte für Kanzler Scholz auch logisch. So appellierte SPD-Generalsekretär Matthias Miersch an den Zusammenhalt: "Alle müssen sich am Riemen reißen. Weglaufen gilt nicht. Wir haben eine Verantwortung, eine verdammte Verantwortung in diesen schwierigen Zeiten." Miersch betont die Gemeinsamkeiten der drei Parteien: "Dass wir die Wirtschaft stützen wollen und dass wir Investitionen anreizen wollen, dass wir Bürokratie abbauen wollen - da haben wir genau die identischen Ziele", sagte er.

Olaf Scholz und Christian Lindner sitzen im Büro des Bundeskanzlers im Bundeskanzleramt

Olaf Scholz und Christian Lindner sitzen im Bundeskanzleramt

Auch die Grünen wollen nach eigener Aussage weiter mit SPD und FDP in einer Koalition regieren. "Wir wollen den Bruch nicht", sagte Grünen-Chef Omid Nouripour am Montag nach einer Präsidiumssitzung seiner Partei in Berlin. Die Grünen gingen zudem davon aus, dass auch "andere vertragstreu sind und wir die Arbeit, die wir hier miteinander machen, zu Ende bringen". Dies ist laut Nouripour "ein Gebot des Anstands".

In Richtung FDP sagte Felix Banaszak, der sich gerade für den Grünen-Vorsitz bewirbt, er könne niemandem raten, "gerade öffentlich die ganze Zeit mit einem Koalitionsende zu spielen". Schließlich stehe die US-Wahl mit möglicherweise gravierenden Veränderungen für die gesamte Welt an.

Neuwahlen: Wer würde profitieren, wer hat Angst davor?

Kriegt die Ampel die Kurve oder steuern wir tatsächlich auf Neuwahlen zu? "Niemand kann sich noch so recht vorstellen, wie die drei Ampelparteien sich wieder zusammenraufen und konstruktiv weiter arbeiten könnten. Allerdings birgt ein Auseinanderbrechen der Koalition für alle drei erhebliche Risiken: sollte die Folge Neuwahlen sein, müssen SPD, Grüne und FDP mit heftigen Einbußen rechnen – und die FDP sogar um den Wiedereinzug in den Bundestag bangen", analysiert WDR-Hauptstadtkorrespondentin Anja Köhler am Montag.

Was die Ampel-Parteien also eint, ist die Angst vor dem vorzeitigen Urnengang. Denn in den Umfragen stehen vor allem die Oppositionsparteien gut da. Die CDU/CSU dürfte mit ihrem Kandidaten Friedrich Merz den neuen Kanzler stellen, sie verfügt derzeit über eine stabile Mehrheit und ist klar stärkste Kraft in den Umfragen. Auch AfD und BSW hätten kein Problem mit einer vorzeitigen Wahl.

SPD, Grüne und FDP hingegen schon. Die FDP würde laut aktuellem Deutschlandtrend den Einzug in den Bundestag verpassen. SPD und Grüne müssten sich mit 16 bzw. 11 Prozent zufrieden geben und könnten allenfalls Juniorpartner in einer neuen Regierung werden.

Deshalb, so glaubt der ehemalige Bundeswirtschafts- und Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) werde die Koalition weitermachen bis zum Ende. "Ich glaube, dass die alle vor einer Sache Angst haben: Das sind Neuwahlen", sagte er.

Wie läuft das eigentlich mit Neuwahlen?

Sollte die Koalition zerbrechen, muss es nicht zwangsläufig zu Neuwahlen kommen. Scholz hätte dann die Möglichkeit, die FDP-Minister zu entlassen. "Dann könnte er mit den Grünen in einer Minderheitsregierung weiter regieren, bräuchte aber bei jeder Abstimmung Stimmen aus der Opposition", erklärt Berlin-Korrespondentin Köhler. Oder die FDP scheidet auf eigenen Wunsch aus der Regierung aus. "Auch dann könnte Scholz mit den Grünen allein weiter regieren bis zur regulären Wahl im nächsten September", so Köhler.

Damit es zu Neuwahlen kommen kann, muss Scholz die Vertrauensfrage stellen. Erhält er bei der Abstimmung im Bundestag keine Mehrheit, wird entweder aus den Mitgliedern des Bundestages ein neuer Kanzler gewählt oder der Bundestag wird aufgelöst und es finden innerhalb von 60 Tagen Neuwahlen statt. Vorgezogene Neuwahlen fanden in der Geschichte der Bundesrepublik 1972, 1983 und im Jahre 2005 statt.

Unsere Quellen:

  • Interview mit Albrecht von Lucke mit WDR aktuell und dem Bayerischen Rundfunk
  • Aktuelle Stunde vom 3.11.2024
  • Gespräch mit WDR-Hauptstadt-Korrespondentin Anja Köhler
  • WDR5-Morgenecho - Gespräch mit Christoph Meyer, stellv. Fraktionsvorsitzender der FDP
  • ARD Deutschlandtrend 31.10.2024
  • Agenturen dpa, AFP, Reuters
  • Bundeswahlleiterin.de
  • Webseite Bundeszentrale für politische Bildung bpb.de

Über dieses Thema berichten wir am 04.11.2024 auch im WDR Hörfunk und in der Aktuellen Stunde um 18.45 Uhr.