Mecklenburg-Vorpommern Die Vertrauensfrage der Kanzler: Von Willy Brandt bis Olaf Scholz
Von Willy Brandt über Helmut Schmidt bis Gerhard Schröder: Fünf Mal haben Kanzler die Vertrauensfrage im Bundestag in der Vergangenheit berits gestellt. Olaf Scholz hat sich jetzt in diese Riege eingereiht.
In der 75-jährigen Bundestagsgeschichte haben Regierungschefs bislang fünf Mal die Vertrauensfrage gestellt, also einen "Antrag", ihnen "das Vertrauen auszusprechen", wie es Artikel 68 des Grundgesetzes beschreibt. Zwei Mal hat das Parlament versucht, den Kanzler über ein Misstrauensvotum zu stürzen. Eine Selbstauflösung des Bundestags ist ebenso wenig möglich wie eine Auflösung allein durch den Bundeskanzler oder den Bundespräsidenten. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben mit diesen Vorgaben 1949 vorgesorgt - und die Konsequenz aus den instabilen Verhältnissen der Weimarer Republik gezogen.
Olaf Scholz (SPD) ist der sechste Kanzler der Bundesrepublik, der die Vertrauensfrage gestellt hat.
1972: Brandt verliert Vertrauensfrage und gewinnt Neuwahlen
Der erste Kanzler, der in der Geschichte der Bundesrepublik die Vertrauensfrage stellt, um Neuwahlen einzuleiten, ist Willy Brandt im Jahr 1972. Erst Ende April hatte Brandt ganz knapp ein Misstrauensvotum überstanden. Grund für das Votum: seine Ostpolitik - die Opposition hatte ihm den "Ausverkauf deutscher Interessen" vorgeworfen. Weil mehrere SPD- und FDP-Abgeordnete in der Folge die Koalition verlassen hatten, befindet sich der Bundestag im Sommer immer noch in einer Pattsituation. Der Kanzler nutzt am 20. September 1972 gezielt den Schachzug der Vertrauensfrage. Brandt erhofft sich durch Neuwahlen, seine sozialliberale Koalition zu stabilisieren.
Willy Brandt übersteht das Misstrauensvotum mit gerade mal zwei Stimmen.
Brandts Rechnung geht auf: Er verliert die Vertrauensfrage, der Weg zu Neuwahlen ist frei. Im November erreicht die SPD bei einer Rekord-Wahlbeteiligung von über 90 Prozent 45,8 Prozent. Am 14. Dezember 1972 wird Brandt zum zweiten Mal zum Kanzler gewählt.
1982: Helmut Schmidt profitiert nur kurz von Vertrauensfrage
Zehn Jahre später, am 3. Februar 1982, stellt Helmut Schmidt die Vertrauensfrage im Bundestag. Schmidts Regierungszeit ist geprägt von einer weltweiten Rezession, die auch Deutschland trifft. Allerdings führt der SPD-Politiker die Bundesrepublik besser durch die Ölkrise als die meisten anderen Industriestaaten. Das Ausland zollt dem Kanzler dafür Respekt, von der CDU/CSU-Opposition muss er sich vorwerfen lassen, die Wirtschaftskrise sei hausgemacht. Auch der Nato-Doppelbeschluss, für den Schmidt steht, sorgt in den eigenen Reihen und auch in der Bevölkerung für Unmut. Als nach acht Jahren die sozial-liberale Koalition zunehmend zerrüttet ist, ist die Vertrauensfrage Schmidts Versuch, sich seiner Regierungsmehrheit zu versichern.
Konstruktives Misstrauensvotum: Helmut Kohl wird Kanzler
Schmidt gewinnt die Vertrauensfrage und kann sich vorerst an der Macht halten. Doch der Erfolg hält nicht lang an - ein halbes Jahr später scheitert die sozialliberale Koalition, vor allem an Differenzen in der Wirtschaftspolitik. Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) fordert damals eine konsequente Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien, eine Haushaltskonsolidierung und die Kürzung einschlägiger Sozialleistungen. Als SPD-Mann kann Schmidt sozialen Einschnitten nicht zustimmen. Am 17. September 1982 treten sämtliche FDP-Bundesminister zurück. Schmidt führt die Regierungsgeschäfte für kurze Zeit ohne Mehrheit im Bundestag weiter. Am 1. Oktober 1982 wird er mit den Stimmen von CDU/CSU und der Mehrheit der FDP-Fraktion durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Helmut Kohl wird sein Nachfolger im Kanzleramt - ohne Neuwahlen. Weil ihm die Legitimation im Bundestag fehlt, stellt er seinerseits noch im selben Jahr die Vertrauensfrage, die er verliert. Allerdings kann Kohl die anschließenden Neuwahlen am 6. März 1983 gewinnen. Er bildet eine Koalition aus CDU/CSU und FDP.
2001: Gerhard Schröder knüpft Vertrauensfrage an Abstimmung
Gerhard Schröder stellt während seiner Amtszeit als Kanzler zwei Mal die Vertrauensfrage. 2001 verknüpft der SPD-Politiker nach den Terroranschlägen vom 11. September die Abstimmung über einen Bundeswehreinsatz in Afghanistan mit bis zu 3.900 Soldaten mit der Vertrauensfrage. Die erstmalige Bereitstellung von deutschen Soldaten außerhalb des Nato-Gebietes nennt er eine "Zäsur". Viele Abgeordnete in der rot-grünen Koalitionen fühlen sich von Schröder erpresst. Doch dieser will die Koalition hinter sich wissen und das "Heft des Handelns“, wie er selbst es beschreibt, in der Hand behalten. Schröder übersteht den politischen Machttest mit dem Druckmittel Vertrauensfrage.
2001 verknüpft Gerhard Schröder (rechts) die Vertrauensfrage mit der Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan.
2005: Schröder verliert das Vertrauen und die Wahl
2005 ist die Situation eine andere: Schröder sorgt mit seiner "Agenda 2010" für viel Unmut bei den Menschen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im neuen Arbeitslosengeld II bringt Schröder zwar Lob von der Wirtschaft. Aber die Stammwähler laufen der SPD wegen der Hartz-IV-Gesetze weg. Nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen stellt Schröder am 1. Juli 2005 schließlich die Vertrauensfrage im Bundestag. Der Kanzler sieht eine mangelnde Unterstützung seiner rot-grünen Regierungskoalition - und will eine Auflösung des Bundestags erreichen. Doch anders als bei Brandt oder Schmidt geht Schröders Rechnung nicht auf: Das Parlament entzieht ihm zwar das Vertrauen, aber bei den vorgezogenen Neuwahlen am 18. September wird die CDU stärkste Partei.
2024: Auch Scholz verliert die Vertrauensfrage
Fast 20 Jahre nach Schröder beantworten die Abgeordneten im Bundestag erneut eine Vertrauensfrage. Nach dem Bruch der Ampel-Koalition und dem Ausscheiden der FDP-Minister hat Kanzler Scholz zusammen mit den Grünen nicht mehr über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Am 16. Dezember 2024 verliert Scholz - erwartungsgemäß - die Abstimmung im Bundestag, und das sogar ziemlilch deutlich. 207 Abgeordnete votieren für Scholz, 394 gegen ihn und 116 enthalten sich. Damit wird der Weg für die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen freigemacht. Die vorgezogene Bundestagswahl soll am 23. Februar 2025 stattfinden.
Verbunden mit Wirtschaftserfolgen und der "Sozialen Frage"
Es zeigt sich, dass die Vertrauensfrage eng mit wirtschaftspolitischen Erfolgen einer Regierung und der "Sozialen Frage" verknüpft ist. Schon Schmidt und Schröder sind schlussendlich daran gescheitert und haben das Vertrauen von Parlament und Bevölkerung verloren.
FAQ: Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Vertrauensfrage
Welche gesetzlichen Fristen und Begrenzungen sieht das Grundgesetz für dieses Verfahren vor? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Nach Artikel 68 des Grundgesetzes kann der Bundeskanzler im Bundestag die sogenannte Vertrauensfrage stellen. Dies kann mit einem konkreten Gesetzesvorhaben verknüpft sein, muss es aber nicht. Frühestens 48 Stunden nach dem Antrag für die Vertrauensfrage darf der Bundestag über diese abstimmen. Wenn der Kanzler bei der Vertrauensfrage keine Mehrheit erhält, kann er den Bundespräsidenten bitten, den Bundestag aufzulösen.
Bei einer negativ ausfallenden Vertrauensfrage kann der Bundespräsident innerhalb von 21 Tagen den Bundestag auflösen. Er ist nach dem Grundgesetz allerdings nicht verpflichtet, dies zu tun. Wenn er sich dafür entscheidet, müssen gemäß Artikel 39 innerhalb von 60 Tagen nach Auflösung des Bundestags Neuwahlen stattfinden.
Ob und wann der Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellt, ist allein seine Entscheidung. Auch der Bundespräsident kann dies nicht rechtlich beeinflussen. Er kann lediglich durch Gespräche mit dem Kanzler versuchen, dessen Entscheidung zu beeinflussen.
Das Vorgehen ist umstritten, weil es in seiner Form eher darauf abzielt, die nötige Mehrheit im Bundestag zu verfehlen. Deshalb ist in diesem Zusammenhang auch von einer "unechten Vertrauensfrage" die Rede.
Um häufige Neuwahlen und Regierungswechsel zu verhindern, ist ein Regierungswechsel weder durch eine Selbstauflösung des Bundestags, noch durch einen Alleingang des Kanzlers oder Bundespräsidenten möglich. Ein Regierungswechsel ohne Neuwahl des Parlaments kann aber über Artikel 67 des Grundgesetzes durch ein sogenanntes konstruktives Misstrauensvotum erfolgen. Der Kanzler und seine Regierung können damit aus dem Amt gehoben werden, wenn der Bundestag mit absoluter Mehrheit einen neuen Kanzler wählt. Der Bundespräsident muss anschließend den amtierenden Kanzler entlassen und den neu gewählten ernennen.
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NDR Info | Aktuell | 16.12.2024 | 07:20 Uhr