Hessen "Sensationsfund" Silberamulett: Wie ein Archäologe die "Frankfurter Inschrift" entzifferte
Es ist nur drei Zentimeter groß, hat aber für ordentlich Wirbel in der Archäologie gesorgt: ein Silberamulett mit der "Frankfurter Inschrift". Im Interview erklärt der Übersetzer des Textes, was das Fundstück so besonders macht.
Vor zwei Wochen stand die archäologische Welt plötzlich Kopf: Expertinnen und Experten stellten in Frankfurt ein 1.800 Jahre altes Silberamulett vor, das 2018 auf dem Gebiet von Frankfurts Vorgängerstadt Nida gefunden wurde. Seine erst jetzt entschlüsselte Inschrift deutet daraufhin, dass es sich bei dem Fund um das älteste Zeugnis christlichen Glaubens nördlich der Alpen handelt.
Im Interview erklärt Archäologe Markus Scholz von der Goethe-Universität, wie die Ausgrabung und die Übersetzung abliefen – und wieso es für die Wissenschaft ein "Sensationsfund" ist.
Der hr hat zweimal mit Markus Scholz gesprochen. Das folgende Interview ist eine Zusammenfassung dieser Gespräche. Die Fragen stellten Christiane Hillebrand und Catherine Mundt.
hessenschau.de: Sie haben die Inschrift entschlüsselt, Herr Scholz. Was sagt uns der Inhalt?
Markus Scholz: Es handelt sich um ein magisches Amulett. Die Praxis, magische Heilswünsche auf Edelmetallfolie zu schreiben, also Silber- oder Goldfolie, kam in dieser Zeit um die Mitte des dritten Jahrhunderts auf. Unter diesen magischen Amuletten auf Edelmetall-Folie ist es eines der ältesten.
Es sollte seinen Träger schützen, wahrscheinlich vor Krankheit oder Widrigkeiten. Das entsprechende Wort ist leider verstümmelt. Der Träger ist zwar nicht namentlich genannt, aber bezeichnet einen Menschen, der sich dem Willen des Herrn hingibt.
Die Silberinschrift von Frankfurt.
hessenschau.de: Wie sind Sie beim Übersetzen vorgegangen?
Scholz: Die Folie war hauchdünn und schon korrodiert, sodass man sie physisch nicht erfolgreich auffalten hätte können. Dabei wäre sie wahrscheinlich hoffnungslos zerstört worden. Es gibt warnende Beispiele aus der Vergangenheit, da sind nur einzelne Brösel übrig geblieben und entscheidende Passagen waren hoffnungslos verloren.
Deswegen hat man gesagt: Wir müssen uns gedulden, bis die Technik so weit ist. Das war dieses Jahr im Mai der Fall. Da konnte ein computertomografisches 3D-Modell im Leibniz-Zentrum für Archäologie in Mainz erstellt werden.
Als ich das Modell zum ersten Mal am Rechner gesehen habe, bin ich schier umgefallen – wegen der Schärfe der Schriftaufnahme und weil mir sehr schnell christliche Zeichen ins Auge sprangen: Iota, Eta, Chi-Rho. Diese griechischen Buchstaben stehen als Abkürzung für Jesus Christus.
hessenschau.de: Wieso ist das so besonders?
Scholz: Normalerweise sind solche magischen Gebete sehr synkretistisch gehalten, vermischen also verschiedene Religionen. Da können Sie Elemente des Judentums finden, heidnische Götter oder auch mal Jesus Christus. Je mehr, desto besser.
Das ist hier nicht der Fall. Wir haben einen rein christlichen Text und keinerlei andere Einsprengsel. Das ist überraschend, denn die Synkretismen kamen bis weit in die Spätantike vor, obwohl wir damals längst einen christlichen Hintergrund hatten.
Der Text ist außerdem ganz in Latein geschrieben, mit wenigen griechischen Buchstaben, zum Beispiel als Abkürzung für den Namen Jesus. Es kommen Formeln darin vor, die wir in dieser frühen Zeit nicht erwartet hätten. Wir sprechen bei diesem Fundstück von einem "missing link": ein Zwischenstück, das man sich immer denken konnte, aber für das der Beweis fehlte.
hessenschau.de: Wie muss man sich die Übersetzungsarbeit vorstellen?
Scholz: Zunächst habe ich über mehrere Tage hinweg versucht, Buchstabe für Buchstabe zu entziffern. Mit einer gewissen Übung kann man 60 bis 70 Prozent einer Inschrift relativ zügig entschlüsseln, indem man am Bildschirm versucht, das möglichst groß aufzulösen.
Ab da muss man um jeden Buchstaben ringen. Es geht darum, jeden einzelnen Strich einem Buchstaben zuzuordnen. Die lateinischen Buchstaben sind oft mehrdeutig und man muss prüfen, welche Abfolge einen Sinn ergibt und welche nicht. Entweder hat man das Vokabular im Kopf oder man schlägt es nach.
Manchmal gibt es eine Lesung, manchmal auch zwei, drei verschiedene. Und dann geht man in die Diskussion mit Kollegen, in diesem Fall mit Althistorikern und Theologen. Wir haben hin- und hergeschrieben und wechselseitig Vorschläge unterbreitet.
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hessenschau.de: Das heißt, es braucht eigentlich ein Netzwerk, um so etwas zu entschlüsseln?
Scholz: Archäologie ist grundsätzlich immer Teamarbeit. Das fängt bei Ausgrabungen an und betrifft besonders die Auswertung hinterher. Da kommen verschiedene Archäologen mit ihrer Spezialexpertise zusammen.
Im Übrigen sind wir damit noch nicht fertig. Was wir jetzt hier vorlegen und in der Öffentlichkeit demnächst durch Publikationen zur Diskussion stellen, ist in manchen Teilen noch eine vorläufige Lesung.
Wir können nicht ausschließen, dass es noch den einen oder anderen Verbesserungsvorschlag geben wird. Die Diskussion wird noch richtig Fahrt aufnehmen, aber im Großen und Ganzen steht der Text.
hessenschau.de: War das für Sie die Übersetzungsanfrage Ihres Lebens oder kommt so etwas öfter vor?
Scholz: Grundsätzlich kommen solche Inschriften immer wieder bei Ausgrabungen vor, aber selten vollständig. Meistens sind es Bruchstücke oder kleine Textreste.
Aber dieses Stück ist völlig besonders. Das haben wir alle so zuvor noch nie gesehen: ein rein christlicher Text und dann auch noch fast vollständig erhalten. Es fehlen nur wenige wenige Buchstaben am linken Rand.
hessenschau.de: Bei der Präsentation des Fundes hieß es, er könnte die Forschung zur Ausbreitung des Christentums in Nordeuropa beeinflussen. Inwiefern?
Scholz: Für die Kulturgeschichte und für die Entstehungsgeschichte des Christentums ist das ein durchaus wichtiges Zeugnis, das künftig aus der Geschichtsschreibung sicherlich nicht mehr wegzudenken ist.
Die Andeutungen, die man vorher über das Christentum nördlich der Alpen hatte, sind in ihrer Authentizität und in der Frage, wie wörtlich man sie nehmen muss, durchaus umstritten.
Dieser Fund stammt aus dem späten zweiten Jahrhundert nach Christus. Damit haben wir ein Verbindungsstück zu den nächstliegenden fest datierten Zeugnissen Anfang des vierte Jahrhunderts.