Hessen Babyboomer gehen bald in Rente: Verschärft sich die Lage im ÖPNV?
Wegen des bevorstehenden Rentenbeginns der Babyboomer droht dem hessischen Nahverkehr ein weitreichender Fachkräftemangel. Änderungen sind laut Experten unausweichlich. Was bedeutet das für unsere Mobilität und die Verkehrswende?
Schon jetzt erleben viele Pendlerinnen, Pendler und Reisende immer wieder Ausfälle und Verspätungen im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Mit dem bevorstehenden Ruhestand der Babyboomer-Generation droht die Situation sich deutlich zu verschärfen.
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Im Kreis Waldeck-Frankenberg ist die hessische Ü60-Quote bei den Bus-, Bahn-, Taxi- und Lkw-Fahrern mit 24,8 Prozent am höchsten. Das geht aus einer SWR-Datenauswertung hervor. Fast jeder Vierte wird hier in den kommenden Jahren in Rente gehen.
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Aber auch im Vogelsbergkreis, Marburg-Biedenkopf und Werra-Meißner-Kreis liegt die Quote über der 20-Prozent-Marke. Experten zufolge lässt sich dieser Verlust nicht mit dem Nachwuchs kompensieren.
Personalmangel bedroht Taktung und Versorgung
"Die Taktfrequenzen, die wir heute gewohnt sind, wird es mit deutlich weniger Personal so nicht mehr geben", warnt Jochen Koppel von Verdi Hessen. "Auch leerstehende Regale in den Geschäften sind eine reale Gefahr, wenn immer weniger Lkw-Fahrer zur Verfügung stehen."
Bereits heute fehlen in Hessen etwa 1.000 Busfahrer, das sind rund zehn Prozent der Stellen. "Der Personalmangel wird exponentiell ansteigen. "Das wird ein großes Problem." so Koppel weiter. "Der gewünschte Effekt, mehr Menschen für den ÖPNV zu begeistern und somit den Straßenverkehr zu entlasten, wird nicht eintreten,“ prognostiziert der Gewerkschaftssekretär für Busse und Bahnen.
Das hessische Wirtschaftsministerium erkennt die Herausforderungen an: "Der Fachkräftemangel betrifft zahlreiche Branchen, auch das Fahrpersonal im Bus- und Busverkehr", erklärte eine Sprecherin des Ministeriums dem hr. Zwar seien die Löhne durch Tarifabschlüsse angehoben worden, aber die Ausbildung sei weiterhin teuer und aufwendig, was den Zugang zum Beruf erschwere. Bund und Länder seien im Austausch und würden nach Lösungen suchen.
Mobilitätsexperte: Angebot reduzieren oder effizienter nutzen
Mobilitätsexperte Volker Blees von der Hochschule Rhein-Main hält zwei Szenarien für wahrscheinlich: "Entweder wir reduzieren das Angebot, oder wir nutzen es effizienter." Letzteres hieße zum Beispiel: weniger Züge, aber längere, die mehr Passagiere fassen.
Im Güterverkehr könnte eine Verlagerung auf die Schiene helfen. Dafür aber fehle noch eine leistungsfähige Infrastruktur. "Und wir müssen uns dann verabschieden von schnellen und billigen Lieferungen", so Blees. Mehr Umlagerungen würden längere Wartezeiten bedeuten. Die schnelle Lieferung über Nacht könnte der Vergangenheit angehören oder sehr teuer werden.
RMV testet autonome Dienste
Der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) will das Problem unter anderem mit innovativen Ideen angehen. Der Verbund wolle On-Demand-Angebote ausweiten und teste im Projekt KIRA ("KI-basierter Regelbetrieb autonomer On-Demand-Verkehre") sogar den Einsatz autonomer On-Demand-Fahrdienste.
Bis Mitte der 2030er Jahre sollen diese Systeme in den Regelbetrieb integriert werden, wie ein Sprecher dem hr mitteilte. "Mit autonomen Projekten möchten wir den Nahverkehr der Zukunft personalunabhängiger machen“, so ein Sprecher des RMV. "Unser Ziel ist es, den ÖPNV durch flexible Dienste zu ergänzen." Außerdem müssten Verkehrsunternehmen das Recruiting von neuem Personal gezielt angehen und stärker vorantreiben, gesteht sich der Verkehrsverbund ein.
Autonomes Fahren als Hoffnungsschimmer? Erstmal kaum, meint Mobilitätsexperte Blees. "Ich glaube, dass autonomes Fahren kommen wird, irgendwann. Aber die Herausforderungen sind groß, und Prognosen, wann es in Deutschland Realität wird, sind unsicher."
Carsharing und Mitfahrgelegenheiten besser nutzen
Doch bereits jetzt könnten wir bestehende Ressourcen effizienter nutzen, etwa durch Mitfahrgelegenheiten und Carsharing. "Zwischen Wiesbaden und Frankfurt stehen täglich 40.000 Sitzplätze in der S-Bahn zur Verfügung“, erklärt Blees. "Auf der benachbarten Autobahn A660 gibt es dagegen täglich etwa 80.000 Fahrten, bei denen durchschnittlich dreieinhalb Sitze leer bleiben." Ein Teil dieser freien Plätze könnte sinnvoll in Mitfahr- oder Carsharing-Systeme integriert werden.
Außerdem biete die Digitalisierung neue Chancen. Arbeiten im Homeoffice vermeidet Wege und entlastet die Infrastruktur. "Wir sollten ernsthaft prüfen, ob alle Wege, die wir heute zurücklegen, wirklich notwendig sind", meint der Professor.
Blees: "Änderungen unausweichlich"
Das sich etwas ändern werde, sei unausweichlich, so Blees, aber es werde nicht über Nacht geschehen. Die Welle des Personalabgangs werde sich über die nächsten Jahre erstrecken. "Und wir müssen Lösungen finden, um uns anzupassen."
Als eine Teillösung sieht der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) eine Reform der Ausbildung. "Wir müssen das Recruiting im Ausland erleichtern und die Anerkennung ausländischer Qualifikationen verbessern", erklärt Bernhard Gässl, Geschäftsführer des VDV, dem hr. So könnte die Branche leichter auf neue Fachkräfte zugreifen.
Mobilitätsexperte Blees stimmt dem zu. Man müsse bei dem Fachkräfteproblem an mehreren Stellschrauben drehen. Doch trotz aller Schwierigkeiten bleibt er optimistisch: "Mobilität steht heute viel höher auf der Agenda als vor zehn oder zwanzig Jahren." Das Bewusstsein, dass Mobilität ein entscheidendes Thema ist, habe sich gewandelt. Das helfe, um als Gesellschaft Lösungen zu finden.
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Die Datengrundlage bilden Zahlen aus der Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit. Mehr Informationen zur Datengrundlage und Methodik gibt's beim SWR.