Eine dreißigjährige Frau mit braunen Haaren sitzt im Rollstuhl und schaut nach oben

Bremen Diese Bremerin mit Behinderung lebt in ihrer eigenen Wohnung

Stand: 14.11.2024 06:15 Uhr

Die Landesbehindertenbeauftragten treffen sich in Bremen. Sie besprechen, wie Menschen mit Behinderung möglichst selbstbestimmt leben können – so wie es Aisha Nagel gelingt.

Von Lieselotte Scheewe

Die Bremerin wohnt in einer typischen Wohnstraße in Walle: Altbremer Häuser und Kopfsteinpflaster. Zu dem Eckhaus ins Hochparterre führt ein sanft geschwungener Weg. Die Türklinke ist niedriger als gewöhnlich. So kann Aisha Nagel ihn auch aus dem Rollstuhl bedienen. Durch eine Gehirnblutung noch vor ihrer Geburt ist die Bremerin mehrfach schwerstbehindert, körperlich und geistig eingeschränkt. Damit die 30-Jährige in ihrer Wohnung zurechtkommt, hilft ihr ihre Assistentin Marina May. "So denn mal los, gerade durch. Hände aufn Schoß, dass du dich nicht klemmst", sagt sie. Und Aisha Nagel fährt in ihrem Rollstuhl durch die Eingangstür.  

Ihr ganzes Leben lang lebt Aisha Nagel in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung. Als sie 16 Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter. Auch danach kann die Bremerin in ihrer Wohnung bleiben: mit einem rechtlichen Betreuer an ihrer Seite und einem ganzen Team von Assistenten. Das ist besonders, denn viele Menschen mit schwerer Behinderung leben in einem Heim. Dahin möchte die 30-Jährige nicht, sondern zu Hause von Assistenzen wie Marina oder Kirsten betreut werden.

Ich möchte gerne, dass ich heute Kirsten in mein Haus bekomme und das behalten möchte, das Bett, das Haus. Hier in Bremen Walle. Nummer 67.
(Aisha Nagel)

Sie schaut auf die orangegelben Vorhänge und die Pflanzen in ihrer Wohnung und grinst. Ihre braunen Haare sind zu einem Zopf gebunden. Das Sprechen fällt ihr nicht immer leicht, aber sie kann sagen, was sie möchte.

So viel Selbstbestimmung wie möglich

Werktags geht Aisha Nagel am Vormittag in die Werkstatt Bremen beim Martinshof. Am Nachmittag und auch in der Nacht ist eine Assistenz bei ihr. "Ich werde immer mit Radio, Korsett und Orthesen aufgestanden. Dann hilft Jamil, der Nachtdienst. Das ist gut. Erst Frühstück in der Küche. Dann gehe ich zum Bus zur Werkstatt", erzählt Aisha Nagel. Hinter dem hellen Eingangsbereich mit großen Fenstern an beiden Seiten, geht es in eine kleine Küche. Schränke, Herd und Kühlschrank sind so niedrig gebaut, dass Aisha Nagel sie vom Rollstuhl aus erreichen kann.

An diesem Nachmittag möchte sie Einkaufen gehen. Ihre Assistentin sitzt mit ihr an einem Holztisch. "Was möchtest du?", fragt Marina May und notiert die Antworten auf einem Zettel. "Radieschen und Birne", antwortet Aisha Nagel, "und die kleinen Bananen".

Marina May betreut die 30-Jährige seit 14 Jahren. Sie findet es wichtig, dass sie so selbstbestimmt wie möglich leben kann. "So wie sie sich mir gegenüber äußert, ist das für sie Freiraum: selbst zu entscheiden, ich gehe einkaufen, selbst zu entscheiden, was koche ich, selbst zu entscheiden, was sie in ihrer Freizeit machen möchte", sagt May.

Sie liebt ihr Zuhause. Sie sagt dann: Ich kann nur in meinem eigenen Bett gut schlafen.
(Marina May, Assistentin von Aisha Nagel )

Besonderes Betreuungsmodell ermöglicht Selbstbestimmung

Aisha Nagel dieses Leben zu ermöglichen, funktioniert. Bei diesem Arbeitgebermodell mit trägerübergreifendem Budget sind alle Leistungsträger zusammengefasst in einem Budget. Das ist alles andere als einfach: Es braucht viele Anträge, ein gutes Assistenzteam und einen engagierten rechtlichen Betreuer. "Für mich ist eine Herausforderung, ein Team hier zusammen zu halten. Dass sie alle in eine Richtung arbeiten und wenn Personal geht, auch neues Personal zu besorgen. Das ist die größte Herausforderung überhaupt, dass es zu wenig Fachkräfte gibt", sagt Marina May. Ein weiteres Problem seien die knappen Finanzen und, dass das Personal auch mal entlastet werden kann. "Jeder hat einen Anspruch auf Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege. Der Stand ist aber so: Es gibt keine Einrichtung, die momentan Kurzzeitpflegen praktizieren können, wahrscheinlich, weil sie das gleiche Problem wie wir auch haben, kein Personal", sagt Marina May.

eine Frau mit frauen Haaren und Brille und ein ca 50jähriger Mann stehen hinter einer jungen Frau im Rollstuhl

Aisha Nagel mit ihrer Assistentin und Teamleiterin Marina May und ihrem rechtlichen Betreuer Rainer Sobota.

Trotz allen Schwierigkeiten ist diese Wohn- und Lebensform möglich. Sie ist aber eher die Ausnahme, sagt Bremens Landesbehindertenbeautragter Arne Frankenstein. Bremen sei mit Quartierswohnangeboten, Wohngruppen und individuellen Wohnformen teilweise schon auf einem guten Weg und weiter als die meisten Flächenländer. "Dennoch müssen wir da weiter dran arbeiten und Inklusion nicht nur vorantreiben, wenn wir gerade Geld haben", betont Bremens Behindertenbeauftragter.

Wir müssen wegkommen von diesem Gedanken, dass behinderte Menschen und nicht behinderte Menschen nicht die ganze Zeit zusammen sein können. Das können sie. Das sehen wir überall da, wo es gut funktioniert.
(Arne Frankenstein, Landesbehindertenbeauftragter )

Bevor Aisha Nagel an diesem Tag mit Marina May zusammen zum Supermarkt geht, muss sie sich noch einmal ausruhen. Hinter der Küche liegen das Bad und ihr Zimmer. Um ihr Bett ist die Wand pink und mit schwarz-weißem Zebramuster gestrichen. Auf ihrem Schreibtisch steht eine lilafarbene Musikanlage. "Übernimmst du den Schalter gleich vom Lifter? Einmal den Bügel nach unten fahren", sagt Marina May. Aisha Nagel drückt auf den Knopf einer kleinen Fernbedienung. Es summt und sie wird mit ein paar gepolsterten Gurten aus ihrem Rollstuhl gehoben. "Ich fahr mal dein Bett ein bisschen hoch und ich mach mal meinen Arm in deinen Nacken rein, damit du dich locker runterlegen kannst“, sagt Marina May und legt Aisha behutsam auf dem Bett ab.

Inklusion: "Wir müssen einen Arbeitsmarkt entwickeln, der inklusiv ist"

Das passiert beim Treffen der Behindertenbeauftragten in Bremen

Die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern treffen sich am 14. und 15. November in Bremen. Bei dem Treffen geht es schwerpunktmäßig um die Frage, wie ein möglichst selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderungen gelingen kann. Wie können Sonderstrukturen abgebaut werden? Beim Wohnen zum Beispiel soll die Entwicklung weg von Heimen und Einrichtungen hin zu Quartierswohnen, Wohngemeinschaften und eigenen Wohnungen gehen. Im Bereich der Psychiatrie ist die Frage, wie mehr ambulante Angebote geschaffen werden können. Die Behindertenbeauftragten aus den verschiedenen Bundesländern treffen sich zweimal im Jahr, immer in verschiedenen Bundesländern.

Mehr zum Thema:

Dieses Thema im Programm:
Bremen Zwei, der Nachmittag, 14. November 2024, 16:45 Uhr