Berlin Sexismus im Fußball: "Das Rollenbild vieler Fangruppen bietet einen Schutzraum für Täter"
Die Sängerin Mine wird in einem Zug von Hertha-Fans sexuell belästigt und beleidigt. Allein die Reaktionen zeigen, wie groß das Problem rund um deutsche Fußball-Stadien ist. Aufarbeitung und Prävention sind möglich, brauchen aber alle Parteien. Von Jonas Bürgener
"Du dreckige Hure", "du Fotze", "sie gehört uns". Dazu mehrfaches Begrapschen und Belästigungen. Die dramatischen Erlebnisse, die die Sängerin Mine während einer Zugfahrt in Richtung Berlin mit einer Gruppe Hertha-Fans nach deren Spiel in Darmstadt auf Instagram schilderte, fanden bundesweite Aufmerksamkeit. In den Kommentarspalten und auf Social Media gab es viel Zuspruch und Unterstützung für die Musikerin.
Schnell wurde jedoch auch deutlich: Mines Erlebnisse sind beileibe kein Einzelfall. Viele weibliche Fußball-Fans in den sozialen Medien berichteten von ähnlichen Vorkommnissen in, rund um oder bei der Anfahrt zu Stadien. Auch die Journalistin Mia Guethe vom Fußball-Magazin 11Freunde beschrieb den alltäglichen und oft unangenehmen Stadionbesuch aus Frauensicht zuletzt eindrücklich [11Freunde.de, Bezahlinhalt].
Experten sind ebenfalls wenig überrascht über die Schilderungen Mines. Sie sehen ein gesellschaftliches Problem, das im Fußball oft stark zum Vorschein kommt. Bei der Aufarbeitung und Prävention kommt es auf verschiedene Aspekte an.
Hohe Zahl an Dunkelziffern
Die Ethnologin Almut Sülzle von der Kompetenzgruppe Fankulturen und Sport bezogene soziale Arbeit (KofaS) forscht seit vielen Jahren zu Diskriminierung und Antidiskriminierung mit Schwerpunkt auf Sexismus und LSBTIQ*-Feindlichkeit.
"Das hat mich nicht gewundert", sagt Sülzle angesprochen auf den Vorfall vom 9. November. Sie habe schon öfters von ähnlichen Situationen gehört und gelesen. "Nur schaffen die es nicht so oft in die Medien. Zum Teil, weil Betroffene keine Lust auf einen großen Medienrummel haben", sagt sie weiter. Damit dürfte Sülzle recht haben. Hätte Mine den Fall nicht ausführlich auf ihrem followerstarken Instagram-Kanal geschildert, wäre er wohl eine weitere Dunkelziffer geworden.
Rückwärtsgewandtes Männerbild im Fußball
Nun ist Sexismus in Deutschland und weltweit mit Sicherheit kein reines Problem des Fußballs. Das zeigen allein die jährlichen Zahlen sexueller Übergriffe auf Volksfesten wie dem Oktoberfest oder die aktuelle Debatte um die (fehlende) Sicherheit für Frauen in den Zügen der BVG.
Dennoch sieht Sülzle den Fußball stark betroffen. Der Grund: Nicht wenige Männer, also die potenziellen Täter, hätten im Fußballkontext ein eher rückwärtsgewandtes Rollenverständnis. Ein Spieltag würde - ähnlich wie der Besuch des Oktoberfests oder des Karnevals - als Flucht aus dem Alltag gesehen werden, in dem andere Regeln gelten - in manchen Fällen auch im Umgang mit Frauen. "Dieses Rollenbild, das in vielen Fangruppen und Kurven zelebriert wird, bietet einen Schutzraum für Täter", sagt Sülzle. "Es ist sicherlich nicht die Mehrheit der Fans, die so drauf ist, sondern eine kleine Gruppe. Die Frage ist immer: Wie viel Spielraum bekommt diese Minderheit?" Sülzles Beobachtung sei, dass es sich um wiederkehrende Täter handelt, die sich immer wieder sicher genug fühlen, um übergriffig zu werden. Auch einer der mutmaßlichen Täter von Anfang November aus der Fangruppe von Hertha BSC war der Polizei bereits bekannt.
Wie groß das Sexismus-Problem rund um deutsche Stadien - in diesem Fall in Nordrhein-Westfalen - ist, zeigen Zahlen der Meldestelle für Diskriminierung im Fußball in NRW (MeDiF). Berichte von Sexismus (150 Meldungen) rangierten hier im Jahr 2022 auf dem unrühmlichen ersten Platz, noch vor rassistischen (140) und queerfeindlichen Vorfällen (128). Die Dunkelziffer dürfte in allen Bereichen hoch sein.
Prävention ist möglich
Eine Verbesserung kann es laut Sülzle nur dann geben, wenn sich das Klima rund um ein Fußballspiel verbessert und sich Fans selbst zu einem besseren Umgang verpflichten. Wichtige Erkenntnisse der Anti-Diskriminierungs- und Gewaltforschung seien außerdem, dass jede Gegenrede und jedes Eingreifen bei Übergriffen die Situation positiv verändert und die Betroffenen unterstützt, anstatt sie alleine zu lassen.
Lobend erwähnt Sülzle die sogenannten Awareness Teams, die mittlerweile viele Fußballvereine wie auch Hertha BSC im Stadion eingeführt haben, und die als Ansprechpersonen dienen. Derartige Teams wünscht sich die Ethnologin auch auf den Anreisewegen, beispielsweise in Zusammenarbeit zwischen den Vereinen, der Bahn und den Fanprojekten. So könnten sichere und geschulte Ansprechpartner zur Verfügung gestellt und gleichzeitig der Spielraum für potenzielle Täter eingeschränkt werden.
Auffällig in den Berichten der Awareness-Teams aus den Stadien ist nach Sülzles Angaben, dass sie nicht nur in den Fankurven aktiv sind, sondern oft auch in die VIP-Logen gerufen werden, weil zum Beispiel Mitarbeiterinnen belästigt werden. Es wird erneut deutlich: Das Problem ist nicht nur der männliche Fußball-Anhänger in der Kurve und in Fanzügen, sondern der Mann im Allgemeinen.
Kommunikation aller Parteien wichtig
Hier gehe es ebenfalls darum für ein sicheres Klima zu sorgen - auch durch Kommunikation. Die Stellungnahme von Hertha BSC nach den jüngsten Vorkommnissen nennt Sülzle dabei als positives Beispiel. Der Verein hatte den Vorfall schnell verurteilt, die generelle Problematik eingeräumt und eine rasche Aufarbeitung mit allen Parteien angekündigt. Hertha teilte gegenüber rbb|24 mit, erste Gespräche seien für diese Woche geplant gewesen. Details und Inhalte nannte der Klub zunächst nicht, man wolle das Thema erst mit allen Beteiligten besprechen.
Das erste Statement der Deutschen Bahn sei hingegen viel zu allgemein gehalten worden, so Sülzle. Außerdem habe man das Problem fehlender Konzepte gegen sexistische und rassistische Übergriffe in der Bahn (egal ob von Fans oder anderen Fahrgästen ausgehend) nicht adressiert. Vielmehr sei auf einen jährlichen materiellen Schaden für die Bahn durch Fußball-Fans verwiesen worden, der mit der konkreten Tat gar nichts zutun hatte.
Auf erneute Nachfrage von rbb|24 teilte ein Bahnsprecher in dieser Woche mit, der Vorfall vom 9. November habe das Unternehmen sehr betroffen gemacht und werde nicht toleriert. Man habe Kontakt mit Mine aufgenommen und sei dem Vorfall intern nachgegangen. Zu Detailfragen von rbb|24 und Ergebnissen der Untersuchungen wollte sich das Unternehmen jedoch nicht äußern.
Entwicklung durchaus erkennbar
Almut Sülzle sieht bei aller Kritik und bei allem Verbesserungspotenzial im Übrigen dennoch eine positive Entwicklung in den letzten Jahren. Neben vielen Initiativen gegen Schwulen- und Queerfeindlichkeit habe sich im letzten Jahrzehnt auch bei der Arbeit gegen Sexismus im Fußball einiges getan. "Ein ganz großer Schritt war die Gründung des Netzwerk gegen Sexismus im Fußball", sagt Sülzle.
In dem Zusammenschluss arbeiten Fanvertreterinnen sowie Mitarbeiterinnen aus den Fanprojekten und von Profi-Klubs gemeinsam an Lösung für eine Verbesserung des Problems. "Die haben einen Leitfaden geschrieben, in dem es darum geht, was Vereine und Fanszenen gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt tun können." Ein Schwerpunkt des Papiers sind die bereits erwähnten Awareness-Konzepte, die heute in mehr als der Hälfte der deutschen Erst- und Zweitliga-Stadien angewendet werden.
"Viele Vereine haben sich das erste Mal überhaupt mit Sexismus auseinandergesetzt, sodass sich da wirklich etwas tut", sagt Sülzle. Dass das bitter nötig ist, zeigen zum Beispiel die Erlebnisse der Sängerin Mine.