Kalliopi Valavani und ihre Tochter Ophelia im Gespräch mit Gertrud Höld, Sozialarbeiterin in der Beratungsstelle für Schwangere der Evangelischen Gesellschaft.

Baden-Württemberg Aus für Kindergrundsicherung: Staatliche Hilfe finden bleibt schwierig

Stand: 08.12.2024 07:14 Uhr

Die Kindergrundsicherung hätte staatliche Hilfe für alle Familien einfacher machen sollen. Jetzt bleibt es weiter kompliziert. Ein Besuch in einer Stuttgarter Beratungsstelle.

In der Beratungsstelle für Schwangere der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart beugen sich Sozialarbeiterin Gertrud Höld und Kalliopi Valavani über verschiedene Anträge. Es geht um Sozialleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Valavani ist alleinerziehend, ihre Tochter Ophelia eineinhalb Jahre alt. Als sie schwanger wurde, musste sie ihr Studium an der Universität Tübingen unterbrechen. Ophelia gewöhne sich momentan in einer Kita ein. Sie hoffe, dann bald wieder einsteigen zu können. Jobcenterleistungen und Bürgergeld waren für Valavani bis zu ihrer Schwangerschaft nur Begriffe, aber mehr auch nicht. Von den meisten Leistungen, die sie heute bezieht, habe sie vorher nie gehört. Und sie wisse nicht, wo sie heute wäre ohne Gertrud Höld.

Kindergrundsicherung: Hunderttausende Kinder in BW armutsgefährdet

In die Fachberatungsstelle der Evangelischen Gesellschaft (eva) in Stuttgart kommen jährlich zwischen 800 bis 900 Ratsuchende. Oft sind es Paare oder Familien, aber auch Alleinerziehende. Diese Gruppen machen rund 30 Prozent der Beratungsfälle aus. Meist sind es Frauen, wie Kalliopi Valavani, die den Großteil der Kinderbetreuung und Erziehung schultern, sagt Höld. Für sie ist das Armutsrisiko besonders hoch. "Das Bürgergeld ist knapp, es reicht, wenn sie sparsam leben", so die Sozialarbeiterin, "aber das Problem ist, wenn sie über einen längere Zeit Bürgergeld beziehen müssen." Doch wenn die Waschmaschine kaputt geht, werde es eng, sagt Höld.

Valavani lebt mit ihrer Tochter in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Reisen oder Essen gehen sei ein Luxus, den sie sich nicht leisten könne, sagt die junge Mutter. Sie spare an allem, außer an guten Lebensmitteln für Ophelia - und das sei teuer.

Es ist toll, dass es das Bildungs- und Teilhabepaket gibt, aber man erfährt erst davon, wenn man den Antrag sorgfältig liest und weiß dann nicht, worauf man überhaupt ein Recht hat. Kalliopi Valavani, Alleinerziehende Mutter

Höld kennt Valavani seit ihrer Schwangerschaft und begleitet sie durch den bürokratischen Dschungel im Sozialhilfesystem. Darunter fallen familienpolitische und existenzsichernde Leistungen, wie Bürgergeld, Sozialhilfe, Wohngeld oder Kinderzuschlag. Diese müssen jedoch in verschiedenen Ämtern, wie Familienkasse, Sozialamt oder Jobcenter beantragt werden, erklärt sie. "Kindergeld bekommen alle, angerechnet wird es beim Bürgergeld, beim Wohngeld und Kinderzuschlag nicht." Es sei eben kompliziert, sagt die Sozialarbeiterin.

VdK-Präsidentin: Kindergrundsicherung hätte Familien gezielter geholfen

Das Ziel der geplanten Kindergrundversicherung war, die bisherigen Leistungen für Kinder zu bündeln. In einen Garantiebetrag für alle Eltern und einen von der Höhe des Einkommens abhängigen Zusatzbetrag. Eine Kindergrundsicherungsstelle, die mit Finanzämtern zusammenarbeiten sollte, hätten Familien einfacher, einheitlicher und gezielter unterstützen können, erklärt die Präsidentin des Sozialverbands VdK Verena Bentele.

"Sprich alle Menschen, die keine Steuern bezahlen, weil sie zum Beispiel Sozialleistungen brauchen, kriegen am meisten Unterstützung für ihre Kinder oder die Menschen, die wirklich ganz wenig verdienen", erklärt Bentele. Andere würden von Steuerfreibeträgen profitieren. "Und je mehr eben die Eltern verdienen und je mehr Einkommen und Vermögen die haben, desto weniger Unterstützung gibt es für die Kinder. Und das wäre ein perfekter Weg gewesen."

Man kann auch volkswirtschaftlich draufgucken und sagen wir leisten uns Kinderarmut. Heiner Heizmann, Caritasverband Diözese-Rottenburg-Stuttgart

Das Aus der Kindergrundsicherung treffe vor allem die Familien besonders hart, die auf die Zusatzleistungen angewiesen sind, so Bentele weiter. Daten des Statistischen Landesamtes zufolge leben allein in Baden-Württemberg rund 355.000 Kinder unterhalb der Armutsgrenze. Bundesweit sind insgesamt über zwei Millionen Kinder betroffen.

Kindergrundsicherung aufgrund befürchteter hoher Kosten gescheitert

Doch das Sozialprojekt von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) scheiterte vor allem am Widerstand der FDP. Eine milliardenschwere Investition und tausende Stellen für den Aufbau der notwendigen Strukturen - das sei zu teuer und ein neues Bürokratiemonster, hieß es. Doch Wohlfahrtsverbände würden zu Ausfallbürgen für eine komplizierte öffentliche Verwaltung und ineffiziente Systeme, so Heiner Heizmann vom Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Und ganz abgesehen davon koste Kinderarmut den Staat jährlich viele Milliarden Euro.

Einerseits sei es ein Gerechtigkeitsproblem, sagt Heizmann. Denn die Hilfe, die es eigentlich geben sollte, würde so sehr verschachtelt, dass sie gar nicht erst ankomme. "Aber man kann auch volkswirtschaftlich draufgucken und sagen: 'Wir leisten uns Kinderarmut.'"

Währenddessen hofft Kalliopi Valavani in der Beratungsstelle darauf, ihren Studienabschluss in ein paar Jahren nachholen und arbeiten zu können. "Das habe ich von Frau Höld gelernt, dass es sich lohnt, nicht aufzugeben, auch wenn der Weg steinig ist. Da immer wieder nachzuhaken, anrufen und nochmal eine E-Mail zu schreiben, auch wenn es anfangs ausweglos scheint", sagt sie. Gemeinsam kämpfen sie sich jetzt weiter durch Anträge, Kostenvorschüsse und Maßnahmen.

Sendung am Fr., 6.12.2024 19:08 Uhr, SWR1 Sonntagmorgen

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