Interview

Soziologe zur gegenwärtigen Protestkultur "Ostermärsche sind etwas angestaubt"

Stand: 07.04.2012 00:23 Uhr

Früher trieben die Ostermärsche Hunderttausende auf die Straße - heute ist das Interesse gering. Und das obwohl Protest wieder en vogue ist. Doch die neue Protestkultur beziehe sich meist auf lokale Belange, meint Protestforscher Dieter Rucht im Interview mit tagesschau.de. Ostermärsche seien etwas angestaubt.

tagesschau.de: Im Gegensatz zu früher locken die Ostermärsche heute nur noch relativ wenige Menschen auf die Straße. Warum ist das Interesse heute so gering?

Dieter Rucht: Ostermärsche leben von der Konjunktur bestimmter Themen. Beispielsweise war in den 60er Jahren der Vietnamkrieg ein wichtiger Schwerpunkt, ein weltpolitisch bedeutsames Ereignis. Das stimuliert dann auch die Zahl der Beteiligten. Derzeit haben wir kein Großereignis, sondern vertrackte außenpolitische Konflikte und Kriege, in denen die Frage von Schuld und Unschuld, von Gut und Böse nicht einfach zu beantworten ist. Und das erschwert eine Mobilisierung.

Zur Person

Dieter Rucht ist Soziologie-Professor und Poltikwissenschaftler. Am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) leitete er zuletzt eine Forschungsgruppe zum Thema Zivilgesellschaft und politische Mobilisierung. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören soziale Bewegungen und politischer Protest.

"Die 'Wutbürger' haben sich auf lokale Belange bezogen"

tagesschau.de: Im vergangenen Jahr hatten die Ostermärsche durch den Anti-Atom-Protest nach Fukushima neuen Zulauf bekommen. Könnte dies durch den Protest der "Wutbürger", wie sie beispielsweise gegen Stuttgart 21 auf die Straße gingen, ebenso passieren?

Rucht: Nicht unbedingt. Diese sogenannten Wutbürger beziehen sich meist auf lokale Belange. Das Friedensthema hingegen ist eines, das über das Lokale hinausgeht und immer wieder aufkommt. Es sorgt aber nur selten für akute Aufregung. Ostermärsche haben zudem den Nimbus des Angestaubten. Und die Menschen haben das Gefühl, dass es im Grunde wenig zu beeinflussen gibt. Wenn die Stuttgarter auf die Straße gehen, dann tun sie das in dem Gefühl, etwas gestalten zu können. Bei der internationalen Politik, den großen Fragen von Kriegen und Abrüstung sowie der Komplexität der Konflikte, fühlt man sich als Einzelperson oder kleine Gruppe ohnmächtig. Der Protest bleibt rein symbolischer Natur; man will Flagge zeigen.

"Prostest ist heute kreativer geworden"

tagesschau.de: Was unterscheidet denn die heutige Protestkultur von den Massenprotesten der vergangenen Jahrzehnte?

Rucht: Die Formen sind variantenreicher und kreativer geworden. Es gibt mehr Eigeninitiative, man ist nicht mehr nur  - ich sag mal - Menschenmasse, die sich vor einer Bühne aufstellt. In den 1950er Jahren war die klassische Protestform die Kundgebung auf einem großem Platz. Man hörte dem Redner eines großen Verbandes zu und trottete wieder nach Hause. Im Kontrast dazu beteiligen sich beispielsweise bei Anti-Castor-Protesten unterschiedlichste Gruppen mit ihrer selbst gewählten Aktionsform, eher harmlos oder eher aggressiv. Sie machen unabhängig voneinander ihr Ding.

"Der Protest ist in die Mitte der Gesellschaft eingewandert."

tagesschau.de: Wer geht heute auf Demonstrationen?

Rucht: Die soziale Bandbreite der Protestierenden ist sehr viel größer geworden. Die unterschiedlichen Bevölkerungsschichten sind sehr viel besser repräsentiert. Auch Privilegierte und staatsnahe Gruppen, beispielsweise Polizisten, sind heute darunter. Es wäre in den 1950er Jahren nicht denkbar gewesen, dass Polizisten für ihre eigenen Belange demonstrieren.

"Viele Protestgruppen machen heute professionelle Medienarbeit"

tagesschau.de: Wie wird Protest heute organisiert?

Rucht: Er hat sich über die Jahre sehr stark professionalisiert. Früher wurden Proteste oft sehr naiv und mit wenig Vorbereitung und geringen finanziellem Mitteln organisiert. Dagegen war der körperliche Einsatz und der Einsatz an freiwilliger Arbeit recht hoch. Inzwischen machen viele Protestgruppen eine professionelle Medienarbeit. Sie wissen, wie man eine Presseerklärung schreibt und wie und wann eine Pressekonferenz durchzuführen ist. Dazu gehört auch, dass man Proteste so inszeniert, dass sie die erwarteten Bilder abgeben.

tagesschau.de: Welche Rolle spielen die Neuen Medien dabei?

Rucht: Das Protestgeschehen ist durch die Neuen Medien schneller und weniger kalkulierbar geworden. Man weiß manchmal nicht, ob 100 oder 5000 Leute kommen. Außerdem erleichtert und verbilligt es die Organisation: Früher musste man eine Druckmaschine anwerfen und Flugblätter verteilen. Heute hat man eine unglaubliche Reichweite per Mausklick.

Ich glaube dennoch, dass die Bedeutung der Neuen Medien überschätzt wird. Die Tatsache, dass auch eine kleine Gruppe im Netz potenziell eine Weltöffentlichkeit ansprechen könnte, führt ja nicht dazu, dass auch die ganze Welt all diese Initiativen zur Kenntnis nimmt. Im Gegenteil: Man stumpft ja auch ab, je öfter man mit immer mehr Weltproblemen und Aufrufen zu Unterstützungsaktionen konfrontiert wird.

"Mausklicks allein beeindrucken die Entscheidungsträger noch nicht"

tagesschau.de: Hat sich Protest inzwischen auch komplett ins Netz verlagert?

Rucht: Eher nein. Noch vor ein paar Jahren herrschte bei einigen Gruppen die Erwartung, man könne durch das Netz politische Entscheidungen wirklich beeinflussen. Jetzt gehen diese rein internetbasierten Gruppen wie "MoveOn.org" und "Campact.de" dazu über, parallel zu Netzaktivitäten auch Straßenaktionen zu organisieren. Das ist ein Indiz, dass das Netz nicht alles leisten kann.

tagesschau.de: Welche Bedeutung hat die Parteien- und Politikverdrossenheit für die heutige Protestkultur?

Rucht: Eine Politikverdrossenheit gibt es nicht, jedenfalls gibt es hier keinen Zuwachs. Engagement gegen Castor-Transporte oder Stuttgart 21 ist ja politische Teilnahme, also das Gegenteil von Abstinenz und Rückzug. Was es hingegen gibt, ist eine wachsende Skepsis gegenüber dem Betrieb der etablierten Parteien. Der wird als routinehaft wahrgenommen. Man hat das Gefühl, hier stehen Machtspiele und Profilierung im Vordergrund; die Sprache ist floskelhaft; Sachzwänge werden vorgeschoben, tatsächliche Interessen nicht benannt. Von diesem Betrieb fühlen sich normale Bürger ausgeschlossen.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.