Durchhaltevermögen bei Schulreformen notwendig "Wir brauchen eine Bildungsrepublik"
Der Bildungsexperte Dieter Lenzen sieht die Schulreformen grundsätzlich auf dem richtigen Weg. Jetzt ist Durchhaltevermögen gefragt, sagt Lenzen im Interview mit tagesschau.de. Er fordert, der Bildung in Deutschland Priorität einzuräumen.
Der Bildungsexperte Prof. Dr. Dieter Lenzen sieht die Schulreformen grundsätzlich auf dem richtigen Weg. Jetzt sei Durchhaltevermögen gefragt. Lenzen fordert von Schülern, Lehrern, Eltern und Politikern, der Bildung in Deutschland Priorität einzuräumen.
tagesschau.de: Sie sind als "Hochschulmanager des Jahres 2008" ausgezeichnet worden. Gelobt wurden sie unter anderem für besonders weitreichende Reformen. So etwas erfordert Mut. Gibt es Mut auch im Schulwesen?
Dieter Lenzen: Mut war in den zurückliegenden Jahren durchaus zu sehen. Was wir jetzt brauchen, ist Durchhaltekraft für diese Reformen, die sich nicht sofort auswirken werden. Es wird eine ganze Generation dauern, bis sie richtig sichtbar sind. Das ist für Politiker schwer, weil sie immer schnell Erfolge zeigen müssen, nämlich nach vier Jahren.
Die Reformen sind auf einem guten Weg
tagesschau.de: Welche der Reformen finden Sie richtig?
Lenzen: Das eine ist die Konzentration auf Früherziehung und frühkindliche Bildung. Wie zum Beispiel der Deutschunterricht für Migrantenkinder, die Probleme haben, dem Unterricht zu folgen, weil sie als Kleinkinder kein Deutsch gelernt haben.
Zweitens ist die Erleichterung der Übergänge zwischen den einzelnen Schulformen wichtig. Die Strukturen dafür sind angelegt, aber noch nicht umgesetzt.
Drittens werden die Lehrerinnen und Lehrer befähigt, klüger zu benoten und besser zu wissen, ob ein Schüler etwas kann oder nicht. Sie sollen keine Vorurteile walten lassen.
tagesschau.de: Was muss noch getan werden?
Lenzen: Wenn das Abitur nach 12 Jahren möglich sein soll und deshalb ein ganzes Schuljahr fehlt, können nicht mehr die selben Inhalte vermittelt werden. Der Lehrplan muss angepasst werden. Man muss überlegen, ob es wirklich wichtig ist, dass jeder Aspekt von einem Fach gelehrt wird. Da gibt es noch Kämpfe, weil alle finden, dass ihr Fach das Wichtigste ist.
Ganztagsschulen bedeuten gleiche Chancen für alle
tagesschau.de: Welche Reform würde besonderen Mut erfordern?
Lenzen: Der große Schritt nach vorn wäre die Ganztagsschule. Mutig wäre es, sehr viel Geld in die Hand zu nehmen und die Ganztagsschule gewissermaßen über Nacht herzustellen, so dass für alle gleiche Chancen bestehen. Das setzt den Mut voraus, Prioritäten in den Budgets der Bundesländer zu setzen. Man muss sich dann mit denen streiten, die andere Prioritäten haben, wie zum Beispiel den Straßenbau. Mit Ganztagsschule meine ich nicht die Gesamtschule!
tagesschau.de: Was sagen Sie zum Föderalismus im Bildungswesen?
Lenzen: Das negative Resultat ist ein wahnsinniges Gefälle von zwei Schuljahren in manchen Bereichen. Das ist nicht hinnehmbar für Kinder, deren Eltern zum Beispiel in ein anderes Bundesland umziehen. Die Benotungen der Kinder können außerdem nicht gerecht miteinander verglichen werden, weil sie unter zu unterschiedlichen Bedingungen entstanden sind.
Das Positive ist, dass es einen Wettbewerb gibt. Die Pisaresultate zeigen: Es gibt Differenzen. Und das könnte ein Anlass für die schwächeren Länder sein zu sagen: So, jetzt aber Ärmel aufkrempeln und ran.
Deutschland muss eine Bildungsrepublik werden
tagesschau.de: Was können denn die Länder, die schlecht abgeschnitten sind, von den anderen lernen?
Lenzen: Ich glaube sie müssen ihre Mentalität überprüfen. Wichtig ist, was Bayern vor 30 oder 40 Jahren begriffen hat und Sachsen und Thüringen jetzt: Dass es eigentlich nur ein relevantes Thema gibt für die Politik - die Bildungsrepublik, die aus 16 Ländern besteht. Aber nicht jedes Bundesland ist jetzt schon ein Bildungsland.
Jeder muss sich fragen lassen, ob er schon alles gegeben hat
tagesschau.de: Lehrer beklagen sich über schwierige Schüler. Die Schüler fühlen sich überfordert von G8. Eltern sind nicht in der Lage das aufzufangen. Wer ist eigentlich in der Pflicht?
Lenzen: Alle. Orientierung auf Bildung muss die ganze Bevölkerung einschließen. Wer sich beklagt, muss sich überlegen, ob er wirklich schon an seiner Leistungsgrenze angelangt ist - was bei Jugendlichen fast nie der Fall ist. Lehrer müssen fragen, ob sie wirklich schon den besten aller denkbaren Unterrichte halten. Denn die Unterrichtsqualität ist das Wichtigste. Und die Politiker müssen sich fragen lassen, ob sie genug tun. Und es gibt besonders in den Städten immer mehr Klagen von Lehrern, dass Eltern sich nicht darum kümmern, ob ihre Kinder in die Schule gehen. Hier werden wir wohl nach staatlichen Maßnahmen schauen müssen. Es geht um die Lebenschancen der Kinder und da kann man nicht Rücksicht nehmen auf die Befindlichkeiten von Eltern.