Interview zum Bundesparteitag "Die Piraten sind keine System-Rebellen"
Gewogen und für zu leicht befunden: Schriftstellerin Katja Kullmann geht mit der Piratenpartei hart ins Gericht. Das Programm sei zu kurz, die Ausrichtung zu pragmatisch, kritisiert sie im Interview mit tagesschau.de. Stattdessen wünscht sie sich mehr Volkspartei statt Saisonphänomen.
tagesschau.de: Internetpartei, Freiheitspartei, Polit-Freibeuter - wer oder was die Piraten sind, darüber ist in den vergangenen Monaten viel geschrieben worden. Sie selbst bezeichnen die Piratenpartei als „Wirtschaftspartei“. Warum?
Katja Kullmann: Die Piratenpartei ist in dem Sinne eine Wirtschaftspartei, als dass sie sich für die Verbesserung von Wirtschafts- und Handelswegen einsetzt. Ihre Klientel sind die jungen Erwachsenen, die in großstädtischen Räumen und jetzt schon als kleine und freie Unternehmer das Internet bewirtschaften. Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen, aber man darf die Piraten eben auch nicht romantisieren. Es geht ihnen eben nicht um eine grundsätzliche Werte- oder Ideenbestimmung. Und es sind schon gar nicht die Rebellen, die das System in Frage stellen.
Keine "Rebellenpartei"
tagesschau.de: Heißt das im Umkehrschluss, dass die Piraten vor allem auf Konfrontationskurs mit der FDP gehen? Oder sind doch die Grünen der Hauptgegner?
Kullmann: Die Frage können Ihnen wahrscheinlich noch nicht einmal die Piraten selbst beantworten. Sie folgen ja der altbekannten Ideologie, dass die Ära der Ideologien vorbei ist, dass es kein "rechts" und kein "links" mehr gibt. Als Hauptstoßrichtung der Piraten würde ich einen wirtschaftlichen Pragmatismus feststellen wollen. Ansonsten mischen sie die Themenfelder bunt durcheinander. Und in einem unterscheiden sich die Piraten eben kaum von anderen Parteien: Auch sie haben keine großen Antworten auf die großen Fragen, auf die Bankenkrise, auf die Finanzkrise. Deswegen finde ich die Beschreibung "Rebellenpartei" unangemessen.
tagesschau.de: Parteien behaupten gemeinhin, sich ums Gemeinwohl zu bemühen. Die Piraten stellen das Individuum in den Vordergrund. Drückt sich hier ein anderes, neues Gesellschaftsbild aus??
Kullmann: Ein Begriff wie "solidarisch" kommt im Parteiprogramm der Piraten nur einmal vor, ein Begriff wie "individuell" aber acht- oder neunmal. Die Wortwahl spiegelt die Wahrnehmung vieler von Gesellschaft und Gegenwart wider. Viele junge Erwachsene sind bereit, sich der Formel "Sei deines Glückes Schmied" unterzuordnen und nehmen dafür Leiharbeit, Zeitarbeit und Outsourcing in Kauf.
Ich glaube, dass all diese Vorstellungen von individueller Virtuosität letzten Endes auch wieder ein Massenpänomen sind und dass am Ende der gut ausgebildete Individualist zusammen mit dem freigesetzten Fensterputzer in Leiharbeit in einem Boot sitzt. Ungleiche Löhne und schlechte Honorierung sind längst keine Frage der sozialen Schicht mehr. Daraus könnte eine neue Solidarität erwachsen - aber dieser Begriff scheint die Piraten nicht weiter zu interessieren.
Ich würde mir wünschen, dass wieder soziale Standpunkte bezogen werden. Das liegt auch in der Luft, in Spanien, Griechenland und in den USA. Die Bewegungen dort aber sind im Kern viel politischer, weil sie die Polis, das Gemeinwesen, wirklich neu verhandeln wollen. Nach der Erosion der Sozialsysteme fragen die Menschen sich ernsthaft, wie man Solidarität herstellen und die Schwächeren mittragen kann.
"Das ist alles Oberflächen-Kosmetik"
tagesschau.de: Verpassen die Piraten also gerade eine Chance?
Kullmann: Ich denke, die Sehnsucht nach einem radikalen Umdenken und nach Parteien, die endlich auch mal jenseits von ,Wirtschaftspolitik‘ Positionen beziehen, ist wahnsinnig groß. Und genau jetzt wäre ein Zeitpunkt, an dem es sich lohnen würde, eben doch einmal Utopien zu wagen, größere Entwürfe.
Die Piraten wählen jedoch einen pragmatischen Ansatz, sie interessieren sich überwiegend für Verfahrensweisen, was mich ziemlich schlecht gelaunt zurück lässt. Das ist alles Oberflächen-Kosmetik. Da unterscheiden sie sich letztlich nicht von den etablierten Parteien. Daraus resultiert von meiner Seite aus eine gewisse Ungeduld mit dieser Partei. Meine Enttäuschung ist groß. Vielleicht, weil es gerade Leute meines Alters sind, mit denen ich ansonsten vieles teile: ein bestimmtes berufliches Umfeld, eine Lebensweise.
tagesschau.de: Die Piratenpartei sei männlich dominiert, wird immer wieder beklagt. Fehlen Ihnen die Frauen? Würden die es besser machen?
Kullmann: Das glaube ich nicht. Auch wenn ich mich als Feministin bezeichne, glaube ich nicht, dass Frauen die Welt generell besser machen oder klüger betrachten als Männer. Dass es wenige Frauen gibt, ist vielleicht ein Verweis auf eine eher technokratische Herangehensweise, die wiederum Rückschlüsse auf die Inhalte zulässt.
Vor allem zeigt sich daran die Methode, wie sich die Piraten um Inhalte drücken. Sie negieren die Diskussion um die Frauenquote, um den schlechteren Durchschnittsverdienst von Frauen und nennen das einfach "post gender". Das ist eine hübsche Formulierung, auch sehr "catchy", die geht sofort ins Ohr. Aber diese Formulierung suggeriert, dass die Diskussion über Ungleichheit in der Gesellschaft schon vorbei wäre, weil geklärt. Und das ist sie noch lange nicht, nicht nur in der Gender-Frage.
Das "Verzweifelungskreuzchen" bei der Piratenpartei
tagesschau.de: Der DeutschlandTrend vom Dezember sieht die Piratenpartei bei sechs Prozent, nach sieben Prozent im November und acht Prozent im Oktober. Hat die Partei ihren Zenit schon wieder überschritten? Oder schafft sie es 2013 in den Bundestag?
Kullmann: Das ist wahnsinnig schwer zu berechnen. Denn niemand von uns weiß, was in der Zwischenzeit, im Jahr 2012, passiert. In diesem Herbst haben die Piraten einen Nerv getroffen und auch von einer Bewegung wie "Occupy" profitiert, obwohl beides nichts miteinander zu tun hat. Da machen Menschen auf zwei parallelen Wegen ihrem Unmut Luft, der sich dann in Zeltstädten und Demonstrationen oder in dem Verzweiflungskreuzchen bei der Piratenpartei nieder schlägt.
Wie sich das weiterentwickelt, hängt sehr davon ab, ob wir zum Beispiel die große wirtschaftliche Angst in den Griff bekommen. Wenn tatsächlich alles zusammenbricht, sind die Piraten meines Erachtens zu schwach aufgestellt.
Ich hoffe, dass die Piraten ein Saisonphänomen sind und dass wir die parlamentarische Demokratie erhalten. Das Individuum stärken und den Fraktionszwang aufheben, wie es die Piraten fordern, klingt vielleicht erst mal toll, erleichtert aber Lobbyismus und Bestechung. Ich wünsche mir große, starke, verlässliche Parteien. Eigentlich wünsche ich mir sogar die Rückkehr der Volkspartei statt lauter kleiner Klientel-Parteien. Vor allem muss Politik stärker wieder als Sinnstifter agieren und zu Gemeinschaft anstiften und nicht mehr den Quartalsbilanzen oder temporären Aufgeregtheiten hinterherhetzen.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de