Nürnberg, 30.9.1945: Die Angeklagten hören einen Teil des Urteils im Justizpalast während des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses.
Hintergrund

Nürnberger Prozesse Ein Verfahren, das bis heute nachwirkt

Stand: 20.11.2020 02:09 Uhr

Vor 75 Jahren begannen die Nürnberger Prozesse. Sie gelten als Geburtsstunde des Völkerstrafrechts - und sind auch eine frühe Grundlage für die heutigen Kriegsverbrecher-Prozesse in Deutschland.

Von Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion
Die Angeklagten auf der Anklagebank waren die grausamen Henker, deren Terror die schwärzeste Seite der Menschheitsgeschichte schrieb. Der Tod war ihr Werkzeug und das Leben ihr Spielzeug. Wenn diese Männer immun sind, dann hat das Gesetz seinen Sinn verloren, und der Mensch muss in Angst leben."

Mit diesen Worten eröffnete Chefankläger Benjamin Ferencz einen der Nürnberger Prozesse gegen NS-Kriegsverbrecher. Ferencz ist vor Kurzem 100 Jahre alt geworden. Er sollte Recht behalten: Die Angeklagten wurden verurteilt. Von Immunität war am Ende keine Rede mehr.

Es war kein Zufall, dass das erste Verfahren gegen Nazi-Größen aus Politik und Militär gerade im Nürnberger Justizpalast stattfand. Seit 1927 hielt die NSDAP in Nürnberg regelmäßig Parteitage ab. 1933 bezeichnete Adolf Hitler seine fränkische Lieblingsstadt als "Stadt der Parteitage".

Der Internationale Militärgerichtshof der Alliierten war ins Leben gerufen worden, um NS-Verbrecher vor Gericht zu bringen. Der Prozess war in vielerlei Hinsicht ein Novum. Zum ersten Mal saßen vier Staaten mit ganz unterschiedlichen Regierungsformen gemeinsam zu Gericht. Die Rechtsgrundlage dafür schufen die Siegermächte im August 1945: das sogenannte Londoner Viermächte-Abkommen.

Zum ersten Mal wurden führende Politiker für völkerrechtliche Verbrechen persönlich verantwortlich gemacht. Auf der Anklagebank saßen Mitglieder der einstigen Nazi-Führungsriege wie Hermann Göring oder Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß.

Benjamin Ferencz

Der letzte noch lebende Chefankläger Benjamin Ferencz: "Der Tod war ihr Werkzeug."

Zwölf Todesurteile

  • Insgesamt gab es 13 Prozesse gegen mehr als 200 Nationalsozialisten aus Politik, Militär und Wirtschaft. Den Hauptprozess führten die Alliierten (USA, Großbritannien, die Sowjetunion und Frankreich) gemeinsam. Die zwölf Nachfolgeprozesse verhandelten die USA in Alleinregie vor ihren Militärgerichten.


  • Am 20. November 1945 wurde der Hauptprozess gegen die 22 Hauptkriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs eröffnet. Unter ihnen: Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe Hermann Göring, Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß und Sicherheitspolizeichef Ernst Kaltenbrunner. Auf der Anklagebank saßen nur 21 Angeklagte: Gegen Martin Bormann wurde in Abwesenheit verhandelt.


  • Zentrale Anklagepunkte waren: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit


  • Der Hauptprozess endete mit zwölf Todesurteilen, sieben Freiheitsstrafen und drei Freisprüchen. In den Nachfolgeprozessen wurden noch 24 weitere Personen zum Tode verurteilt.

Meilenstein für das Völkerstrafrecht

Politiker konnten sich bis dahin hinter ihrem Schreibtisch verschanzen. Verantwortlich für die Einhaltung des Völkerrechts waren allein die Staaten. Das änderte sich aber, um die beispiellosen Verbrechen unter dem NS-Regime zu bestrafen.

Seitdem drohen auch Staatschefs strafrechtliche Konsequenzen, wenn sie gegen Völkerrecht verstoßen. Die sogenannten Nürnberger Prinzipien sind seit den Nürnberger Prozessen fester Bestandteil des Rechts. In der Praxis ist es bis heute allerdings nicht einfach, führende Politiker tatsächlich auf die Anklagebank zu bekommen.

Vorbild für Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag

1950 legte die Völkerrechtskommission einen Entwurf für ein internationales Strafgesetzbuch der "Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit" vor. Außerdem auf der Agenda der Kommission: die Gründung eines Internationalen Strafgerichtshofs.

Allerdings vergingen nach dem Ende der Verfahren in Nürnberg noch gute 50 Jahre, bis die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Vorhaben in die Tat umsetzte. Den Anfang machten die Strafgerichte für Jugoslawien und Ruanda Mitte der 1990er-Jahre. Sie wurden eingesetzt, um die dort begangenen schweren Verbrechen zu verfolgen.

1998 folgte die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs. 2002 nahm der Gerichtshof seine Arbeit auf. Der Beitritt ist für Staaten allerdings freiwillig. Die USA, Russland, China und Syrien zum Beispiel sind nicht dabei. Doch wenn zum Beispiel Verbrecher wie der kongolesische Milizenführer Germain Katanga, der im Jahr 2014 zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde, in Den Haag auf der Anklagebank sitzen, geht auch das auf die Nürnberger Prozesse zurück.

Straftat "Verbrechen gegen die Menschlichkeit"

Durch die Nürnberger Prozesse rückte auch eine spezielle Straftat in den Vordergrund. Die NS-Verbrechen gelten als Urform von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", also Mord, Versklavung oder Deportation einer Vielzahl von unschuldigen Menschen. Vergleichsweise neu ist auch, dass diese Verbrechen nicht nur vor dem Internationalen Strafgerichtshof, sondern auch vor nationalen Strafgerichten in Deutschland angeklagt werden können.

Grundlage dafür ist das deutsche Völkerstrafgesetzbuch, das es seit 2002 gibt. Das Gesetz ermöglicht der deutschen Justiz die Ahndung von bestimmten Straftaten gegen das Völkerrecht. Es gilt dabei das sogenannte Weltrechtsprinzip. Bestraft werden können also auch Taten, die im Ausland begangen wurden, und bei denen der mutmaßliche Täter kein Deutscher ist. Als Prinzip dahinter steht das Ziel, dass Kriegsverbrecher auch im Ausland keinen "sicherer Hafen" haben sollen.

Kriegsverbrecher-Prozess in Deutschland

Ein Beispiel: Vor dem Oberlandesgericht Koblenz müssen sich seit April 2020 erstmals zwei Mitglieder des Assad-Regimes wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Einer der Angeklagten hatte jahrelang beim syrischen Geheimdienst gearbeitet. Dort soll er in leitender Funktion die Misshandlung Tausender Menschen in einem Gefängnis in Damaskus angeordnet haben. Zahlreiche Opfer treten im Prozess als Nebenkläger auf.

Auch solche aktuellen Gerichtsverfahren haben ihren Ursprung also in den Nürnberger Prozessen. Sie waren in der direkten Nachkriegszeit ein Beispiel dafür, wie Völkerrecht durchgesetzt werden kann. Sie haben damals wichtige Aufklärungsarbeit geleistet und wirken bis heute nach.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 20. November 2020 um 09:00 Uhr.