Missbrauch im Erzbistum München "Bilanz des Schreckens"
497 Opfer, 235 Täter und eine "Bilanz des Schreckens": Das Gutachten zum Missbrauch im Erzbistum München belastet hochrangige Kirchenfunktionäre schwer - darunter auch den emeritierten Papst Benedikt und Kardinal Marx.
Ein Gutachten lastet dem emeritierten Papst Benedikt XVI. Fehlverhalten im Umgang mit vier Fällen von sexuellem Missbrauch während seiner Zeit als Erzbischof des Bistums München und Freising an. Das sagte der Jurist Martin Pusch von der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) bei der Vorstellung des vom Erzbistum in Auftrag gegebenen Gutachtens in München.
Benedikt weist Fehlverhalten strikt zurück
In allen Fällen habe Benedikt - damals Kardinal Joseph Ratzinger - ein Fehlverhalten strikt zurückgewiesen. Der emeritierte Papst war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising. Er habe umfangreich Stellung zu den Vorwürfen genommen, betonte Pusch.
Seine 82 Seiten lange Stellungnahme ist im Anhang des Gutachtens zu lesen, das inzwischen auf der Internetseite der Kanzlei veröffentlicht wurde.
Kritiker werfen Ratzinger schon seit geraumer Zeit Fehlverhalten vor - konkret beim Umgang mit einem Priester aus Nordrhein-Westfalen. Er soll vielfach Jungen missbraucht haben und wurde zur Amtszeit Ratzingers aus NRW nach Bayern versetzt, wo er rechtskräftig wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wurde und immer wieder rückfällig geworden sein soll. Allein dieser Fall macht 370 Seiten des insgesamt mehr als 1700 Seiten starken Gutachtens aus.
In zwei der Fälle, bei denen die Gutachter ein Fehlverhalten des damaligen Münchner Erzbischofs sehen, sei es um Kleriker gegangen, denen mehrere begangene und auch von staatlichen Gerichten attestierte Missbrauchstaten vorzuwerfen seien. Beide Priester seien in der Seelsorge tätig geblieben, kirchenrechtlich sei nichts unternommen worden. Ein Interesse an den Missbrauchsopfern sei bei Ratzinger "nicht erkennbar" gewesen. In einem weiteren Fall soll ein Priester aus dem Ausland in den Dienst des Erzbistums übernommen worden sein, obwohl er im Ausland einschlägig verurteilt worden war. Aus den Akten gehe hervor, dass Ratzinger von der Vorgeschichte des Priesters gewusst habe, sagte Pusch.
Weist ein Fehlverhalten strikt zurück. Der erimitierte Papst Benedikt XVI.
Vatikan will Gutachten prüfen
Der Vatikan will in den kommenden Tagen detailliert auf das Missbrauchsgutachten blicken. Man werde es einsehen und könne dann angemessen die Details prüfen, erklärte der Sprecher des Heiligen Stuhls, Matteo Bruni. "Im Bekräftigen des Gefühls der Schande und der Reue für den von Geistlichen begangenen Missbrauch an Minderjährigen, sichert der Heilige Stuhl allen Opfern seine Nähe zu und bestätigt den eingeschlagenen Weg für den Schutz der Kleinsten, indem ihnen ein sicheres Umfeld garantiert wird", hieß es weiter.
Fehlverhalten von Marx und Wetter
Dem Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx warfen die Gutachter Fehlverhalten im Umgang mit zwei Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch vor. Es gehe dabei um Meldungen an die Glaubenskongregation in Rom. Zudem warfen ihm die Gutachter Untätigkeit vor. Es sei ungeachtet einer Vielzahl von Meldungen nur in "verhältnismäßig geringer Zahl" festzustellen, dass sich der Kardinal überhaupt unmittelbar mit Missbrauchsfällen befasst habe, sagte Pusch. Weiter hieß es, Marx habe sich auf eine "moralische Verantwortung" zurückgezogen und die direkte Verantwortung im Generalvikariat gesehen. Im Fall eines für die Institution, der er vorstehe, zentralen Themas "greift es unserer Meinung zu kurz, auf die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit ihm unterstellter Funktionsträger zu verweisen", sagte Pusch. Es sei fraglich, was, wenn nicht sexueller Missbrauch, Chefsache sei. Erst ab dem Jahr 2018 habe es bei Marx eine geänderte Haltung gegeben.
Marx war bei der Vorstellung nicht anwesend. Er will aber am Nachmittag in München ein Statement abgeben. Anwältin Marion Westpfahl rügte zu Beginn sein Fernbleiben. Die Entscheidung von Marx sei vor allem bedauerlich mit Blick auf das Interesse Missbrauchsbetroffener, "wahrgenommen zu werden".
Auch Ratzingers direktem Nachfolger als Münchner Erzbischof, Kardinal Friedrich Wetter, wirft das Gutachten Fehlverhalten in 21 Fällen vor. Wetter habe die Fälle zwar nicht bestritten, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon, sagte Pusch. Sein Kollege, der Anwalt Ulrich Wastl, sprach von einer "Bilanz des Schreckens".
Gutachten listet 497 Missbrauchsopfer auf
Das Gutachten listet insgesamt Hinweise auf mindestens 497 Betroffene sexualisierter Gewalt auf. Das von der Münchner Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl vorgestellte Gutachten untersucht Missbrauchsfälle aus den Jahren 1945 bis 2019.
Nach Angaben der Gutachter waren 247 Opfer männlich, 182 Opfer weiblich, in 68 Fällen sei eine Zuordnung nicht möglich gewesen. 60 Prozent der betroffenen Jungen waren zwischen acht und 14 Jahre alt.
Wohl größere Dunkelziffer
Mindestens 235 mutmaßliche Täter gab es laut der Studie - darunter 173 Priester und neun Diakone. Allerdings sei dies nur das sogenannte Hellfeld. Es sei von einer deutlich größeren Dunkelziffer auszugehen. Das Gutachten kommt auch zu dem Schluss, dass viele Priester und Diakone auch nach Bekanntwerden entsprechender Vorwürfe weiter eingesetzt worden seien. 40 Kleriker seien ungeachtet dessen wieder in der Seelsorge tätig gewesen beziehungsweise dies sei geduldet worden. Bei 18 davon erfolgte dies sogar nach "einschlägiger Verurteilung", wie Rechtsanwalt Pusch sagte. Insgesamt seien bei 43 Klerikern "gebotene Maßnahmen mit Sanktionscharakter" unterblieben.
Münchner Generalvikar "bewegt und beschämt"
Der Münchner Generalvikar Christoph Klingan zeigte sich nach der Vorstellung eines Missbrauchsgutachtens "bewegt und beschämt". "Meine Gedanken sind in dieser Stunde zunächst bei den Betroffenen, bei den Menschen, die durch Mitarbeiter der Kirche in der Kirche schweres Leid erfahren haben", sagte er in München. "Den Betroffenen muss unser erstes Augenmerk gelten."
Der Sprecher der Opferinitiative "Eckiger Tisch", Matthias Katsch nannte das Gutachten eine "historische Erschütterung" der Kirche. "Dieses Lügengebäude, was zum Schutz von Kardinal Ratzinger, von Papst Benedikt, errichtet wurde hier in München, das ist heute krachend zusammengefallen", sagte er der Nachrichtenagentur dpa in München.
Eigentlich sollte das nun fast 1900 Seiten starke Gutachten bereits im vergangenen Jahr erscheinen, die Veröffentlichung wurde aber wegen neuer Erkenntnisse auf Januar verschoben.