Projekt zur Aufklärung gestartet Pfadfinderbund will Missbrauch aufarbeiten
In den USA muss der Pfadfinder-Dachverband Zehntausende Betroffene sexuellen Missbrauchs entschädigen. Auch in Deutschland sollen dem Verdacht jahrelanger Vergehen nun nachgegangen werden.
Lange Jahre war es ein Gerücht unter Pfadfindern. 2013 kam es an die Öffentlichkeit: Auf der Burg Balduinstein, einer freien Bildungsstätte in Rheinland-Pfalz, wurden Minderjährige über Jahre hinweg sexuell missbraucht.
Über das, was hinter den Mauern der Burg vor sich ging, hatte auch Uwe Scherf aus Weilheim schon früh gehört. Der heute 56-Jährige war als junger Pfadfinder nur einmal kurz auf der Burg. Er erzählt von einem damaligen Freund, "oder halt eine aus unserer Gruppe". Scherf habe "gespürt, dass da etwas los ist". Dann sei er ferngeblieben.
Hinweise auf gravierendes institutionelles Versagen
Ein Fall sexuellen Missbrauchs und doch kein Einzelfall. Auch innerhalb der Pfadfinderverbände in Deutschland gibt es Missbrauchsfälle. Dem Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder, eine von mehreren Organisationen, sind mindestens fünf Fälle aus der Vergangenheit bekannt, bei denen es nicht gelungen sei, Täter aus dem Verband zu entfernen, sagt die Bundesvorsitzende Maria Venus. Es gebe Hinweise auf Täternetzwerke und ein gravierendes institutionelles Versagen im Umgang mit Tätern und Betroffenen. "Der Verband scheint in seinem Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt den Bedürfnissen der Betroffenen nicht immer gerecht geworden zu sein", kritisierte Venus:
Sei es, weil wir ihnen kein Gehör geschenkt oder das Gehörte abgewiegelt haben oder das Andenken von Tätern immer noch gelebt wird. Die Fälle sexualisierter Gewalt in der Vergangenheit wurden teilweise unsichtbar gemacht und als Verschlusssache behandelt, wahrscheinlich um das Ansehen des Verbandes zu schützen.
"Verharmlosung" und "Verleumdungen" auflösen
Der Verband arbeitet mit dem sozialwissenschaftlichen Institut für Praxisforschung und Projektberatung IPP aus München zusammen. Das IPP bringt dafür Erfahrungen aus dem Kloster Ettal oder der Odenwaldschule mit, derzeit ist es an der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der evangelischen Kirche beteiligt.
Das Institut soll die Akten durchforsten, aber auch mit Betroffenen und Zeitzeugen sprechen. "Aufarbeitung heißt nämlich möglicherweise in vielen Fällen, jahrzehntelanges Schweigen zu brechen", sagt Peter Caspari vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung. "Der Stimme der Betroffenen Gehör zu verschaffen", das bedeute auch, "subtile Verharmlosungen, Verleugnungen und Manipulationen aufzulösen". Und es bedeute, die Geschichte des Bundes der Pfadfinderinnen und Pfadfinder in Bezug auf sexualisierte Gewalt neu zu schreiben.
Auf der Suche nach möglichem Täternetzwerk
Die Forscher gehen in erster Linie der Frage nach, inwiefern es Täterstrukturen und Täternetzwerke gab. Sie wollen aber auch ideologische Hintergründe erforschen.
Im Mittelpunkt stehen die Jahre 1976 bis 2006. Ein Projekt, das bis 2023 angelegt ist und innerhalb der Ortsgruppen auf ein positives Echo stößt.
Betroffene können sich melden
Uwe Scherf vom Pfadfinderstamm Eule in Geretsried erinnert sich zwar aus seiner aktiven Zeit als Pfadfinder nicht an Übergriffe innerhalb des eigenen Stammes. Er sagt aber auch:
Natürlich gibt es sehr viele Gelegenheiten. Es gibt so einen Spruch, der heißt: Nachts sind alle Kohten schwarz - weil das Zelt bei uns ist Kohte heißt, und das ist aus schwarzem Baumwollstoff. Und was da passiert, kriegt nicht jeder mit.
Verbunden mit dem Forschungsprojekt ist daher ein Aufruf an Betroffene. Sie können sich per Mail oder ab dem 9. September per Telefon an das Institut für Praxisforschung und Projektberatung in München wenden.
Zeitzeugen und Betroffene können sich per unter der Mail-Adresse aufruf@ipp-muenchen.de an das Institut wenden.
Zwischen dem 9. September und 7. Oktober wird eine Tlefon-Hotline eingerichtet. Sie ist dienstags zwischen 11 und 13 Uhr und donnerstags zwischen 15 und 17 Uhr unter 030 / 54 98 75 51 zu erreichen.