Politikwissenschaftler Korte "Halbzeittief der Regierung ist dramatisch"
Die SPD steckt in einer Identitätskrise, sagt der Duisburger Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte. Dennoch sieht er für die SPD auch bei der Wahl 2006 Chancen. Die Grünen haben es dagegen gut: Langzeitarbeitslose Grünen-Wähler gibt's kaum, erklärt Korte im Gespräch mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Herr Korte, In welchen Punkten hat die Regierung nicht gehalten, was sie sich im Koalitionsvertrag versprochen hatte?
Korte: Der Koalitionsvertrag war ein Gemischtwarenkatalog, an deren Details sich der Wähler heute kaum erinnert. Das liegt daran, dass hier kein großer Entwurf mit Kraft zur Vision vorgelegt wurde, sondern eine Art Reparaturwerkstatt, die fortsetzen sollte, was man in den vier Jahren zuvor auf den Weg gebracht hatte. Die SPD hatte versprochen mit dem Hartz-Konzept die Arbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren. Das ist der Hauptpunkt, der sie Vertrauen gekostet hat. Was in der Agenda 2010 angekündigt wurde, war in keiner Weise Gegenstand im Koalitionsvertrag und ist erst im Nachhinein entwickelt worden.
tagesschau.de: Ist die Kluft zwischen Realität und Koalitionsvertrag größer als üblich?
Korte: Die Kluft ist größer als sonst. Es ist sehr ungewöhnlich, dass die Strukturreformen, die uns zur Zeit so bewegen, in keiner Weise im Koalitionsvertrag angekündigt waren. Das kann Missmanagement sein, das kann bewusste Verschleierung sein – es kann aber auch einfach der Ermüdungszustand sein, der die Koalitionsvereinbarungen nach vier Jahren Regierung geprägt hat.
tagesschau.de: Welche Erfolge gibt es nach zwei Jahren rot-grüner Regierungspolitik?
Korte: In diesem Jahr ist schon deutlich erkennbar, dass die Reformen im Gesundheitswesen fruchten: Die Krankenversicherung erwirtschaften wieder Überschüsse. Was den Arbeitsmarkt betrifft, scheint die Bereitschaft gestiegen zu sein, sich vermitteln zu lassen und Jobs anzunehmen, die man vor einem halben Jahr noch abgelehnt hätte. Auch der Umbau der Arbeitsverwaltung hat Bewegung gebracht.
Mehr Formular als Information
tagesschau.de: Hartz IV hat heftigen Protest ausgelöst. Hat die Regierung es nicht geschafft, angemessen über die Reformen zu informieren?
Korte: Das Formular war immer früher da als die Information über das Formular. Auch das hat eine Vertrauenskrise bewirkt. Die Glaubwürdigkeit der Politik hat darunter gelitten, dass keine in sich schlüssige Reformagenda vermittelt wurde. Es ist unklar geblieben, dass die Agenda 2010 nicht aus ökonomischer Notwendigkeit, sondern aus SPD-Sicht aus sozialer Notwendigkeit zwingend war. Dieser Grundgedanke, der doch ursozialdemokratisch ist, fällt überhaupt niemandem mehr auf.
tagesschau.de: Die Umfragewerte der SPD sind im Keller, reihenweise haben Genossen ihrer Partei den Rücken gekehrt. Ist die Schwäche der SPD damit zu erklären, dass Regierungsparteien zur Halbzeit von Legislaturperioden immer schlecht dastehen?
Korte: Es gab tatsächlich immer ein Halbzeittief der Bundesregierungen und dadurch den berühmten Oppositionseffekt bei Landtagswahlen. Schröder hat diesen Effekt in der ersten Legislaturperiode außer Kraft gesetzt – eine absolute Ausnahme in der Geschichte der Bundesrepublik. Aber der derzeitige Absturz der Regierung ist dramatischer als bei anderen Halbzeitbilanzen. So tief wie jetzt ist eine Regierung noch nie in den Umfragen gesunken. Aber auch die Opposition hat noch nie so negative Werte erreicht.
tagesschau.de: Befindet sich die SPD in einer strukturellen Krise?
Korte: Die Partei ist in einer Identitätskrise. Sie leidet unter ihrem momentanen Verliererimage. Schlimmer aber ist, dass sie das Lebensgefühl ihrer eigenen Kernwähler nicht mehr erreicht. Die ursprüngliche Partei der kleinen Leute, die ihre Identität im Ausbau des Wohlfahrts- und Sozialstaates gefunden hat, wird von ihren bisherigen Stammwählern überhaupt nicht mehr mit diesem in Verbindung gebracht.
Grünen als rechte Mittelstandspartei
tagesschau.de: Die Akzeptanz der Grünen hingegen scheint ungebrochen. Wie hängt das mit der Schwäche von SPD und CDU zusammen?
Korte: Das Parteiensystem ist ein kommunizierendes Röhrensystem. Die Grünen sind Hartz-Gewinner, weil sie eine linke Alternative sind, wenn man in der Wahlkabine steht. Allerdings sind sie längst eine rechte Mittelstandspartei geworden. Die Grünen haben Strahlkraft, weil sie Wohlstand und Askese verbinden und eine Wahlalternative für gutsituierte Bürger sind, ohne gleichzeitig die Opposition wählen zu müssen. Die komfortable Situation der Grünen hängt auch damit zusammen, dass ihre meisten Wähler gerade einmal von Steuerfragen betroffen sind. Langzeitarbeitslose Grünen-Wähler kann man mit der Lupe suchen.
tagesschau.de: Wie schätzen Sie Schröders Chancen ein, die Stimmung bis zur Bundestagswahl 2006 herumzudrehen?
Korte: In unserer kurzatmigen Aufregungsdemokratie ist es natürlich schwer zu sagen, wie es in zwei Jahren aussieht. Aber die Chancen für die SPD sind da: Schröder kann sich nach neuen Bündnissen umsehen. Was spricht dagegen, ein neues Dreierbündnis anzudenken, wenn jetzt eine neue Linkspartei entstehen sollte? Was spricht dagegen, dass die Reformen wie im Gesundheitswesen Wirkung zeigen? Außerdem ist Schröder für Punktlandungen bekannt.
Das Interview führte Josy Wübben für tagesschau.de