Interview zur Gewaltprävention an Schulen "Schulen müssen professionell reagieren"
Seit dem Hilferuf der Berliner Rütli-Schule wird die Zukunft der Hauptschulen quer durch die Parteien in Frage gestellt. Der Leiter der Hamburger "Beratungsstelle Gewaltprävention" Dr. Christian Böhm kennt die Probleme aller Schularten mit Gewalt und anderen Verhaltensauffälligkeiten. tagesschau.de sprach mit ihm über die Ursachen von Gewalt an Schulen, das Ausmaß des Problems und Gegenstrategien.
tagesschau.de: Randalierende Schüler, hilflose Pädagogen, ist das nach Ihren Erfahrungen an den Hauptschulen eher die Ausnahme oder die Regel?
Christian Böhm: Es gibt Verhaltensprobleme, aber ich würde das nicht nur auf die Hauptschule beschränken. Schüler und Jugendliche zeigen an verschiedenen Schulformen auffälliges Verhalten, auch Gewalt. Das ist auch von den Stadtteilen abhängig.
tagesschau.de: Wie erklären Sie sich denn diese Neigung zu Gewalt?
Böhm: Dafür gibt es verschiedene Erklärungsmuster. In der Forschung wird immer wieder auf die soziale Lage von Familien verwiesen, also auf Arbeitslosigkeit, Sozialhilfestatus, niedriges Bildungsniveau. Auch der Erziehungsstil der Eltern erklärt viel, wenn es zum Beispiel Gewalt in der Familie gibt. Und in der Folge spielt dann die Mitgliedschaft in deliquenten Cliquen eine Rolle. Jugendliche aus Problemfamilien wenden sich anderen Jugendlichen zu, die vergleichbar aufwachsen. Und in diesen Cliquen existieren dann Normenbildung und Gruppendruck, die auch in Richtung Straffälligkeit und Gewalt führen.
"Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem"
tagesschau.de: Welche Rolle spielt der Schulalltag?
Böhm: Natürlich sind auch Leistungsdruck und die Pädagogen ein Faktor. Aber das Phänomen Gewalt kann sich nicht nur auf den Komplex Schule zurückführen lassen. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.
tagesschau.de: Die Berliner Rütli-Schule hat einen hohen Anteil von Schülern aus Migrantenfamilien. Halten Sie das für einen Teil des Problems?
Böhm: Ich gehe das Problem anders an. In sozialen Brennpunkten gibt es überdurchschnittlich viele ausländische Familien mit finanziellen, beruflichen und anderen Problemen, und deshalb weisen auch die Kinder und Jugendlichen Verhaltensprobleme auf. Nicht der Migrantenstatus an sich ist entscheidend, sondern die soziale Lage. Bei bestimmten Familien im muslimischen Bereich kommen bestimmte Männlichkeitsnormen hinzu, Machoverhalten, das auch zu auffälligem, aggressivem Verhalten führt.
"Frühzeitig Probleme erkennen"
tagesschau.de: Was empfehlen Sie den Lehrern mit ähnlichen Problemen?
Böhm: In Hamburg kümmert sich die Beratungsstelle Gewaltprävention seit Jahren um dieses Phänomen. Wir sagen den Schulen, dass sie frühzeitig auf Probleme aufmerksam werden und diese dann angehen sollten. Wenn man selbst bemerkt, dass man der Lage nicht Herr wird, sollte man mit den Institutionen zusammenarbeiten, die dafür da sind – mit der Jugendhilfe, mit dem Familienpräventionsteam für besonders auffällige und straffällige Kinder und Jugendliche sowie mit der Polizei. Darüber hinaus schulen wir Lehrer im Umgang mit Konflikten und Gewalt, damit sie sicherer werden. Wir helfen Schulen, ein Konzept zur Gewaltprävention zu entwickeln. Außerdem bieten natürlich die Jugend- und Schulämter und die schulpsychologischen Dienste ihre Hilfe an.
tagesschau.de: Sie stellen also auch fest, dass Lehrer nicht wissen, wie sie mit dem Phänomen Gewalt klarkommen sollen?
Böhm: Wir beobachten, dass Lehrer an Schulen in sozialen Brennpunkten sich mit den Jahren ihre Kompetenz erarbeitet haben. Da gibt es in der Regel handfeste Kollegen, die sicher sind und sich nur in Extremfällen an uns wenden. Größere Unsicherheit herrscht an Schulen, die bislang weniger von Gewalt betroffen waren und nun erstmals mit ihr konfrontiert werden, die zum Beispiel in einem Stadtteil liegen, dessen Sozialstruktur sich ändert.
"Schüler bei Alltagsproblemen einbeziehen"
tagesschau.de: Wie kann man denn Schüler im Umgang mit solchen Problemen mit einbeziehen?
Böhm: Wenn man vorbeugend handeln will, muss man Schüler beteiligen. Eine Möglichkeit ist zum Beispiel, für Alltagskonflikte und Regelverstöße Streitschlichter zu benennen. Allerdings sind solche Programme nichts für massive Gewalttaten. Für solche Straftaten sind weiterhin Kollegium, Schulleitung und Polizei da.
tagesschau.de: Andere Schulen haben gute Erfahrungen gemacht mit einem Kodex, den sie sich selber gegeben haben.
Böhm: Immer dann, wenn Schüler an der Aufstellung gemeinsamer Regeln beteiligt werden, halten sie die auch eher ein. Schulverträge oder eine gemeinsame erarbeitete Hausordnung unterstützen die Schüler, die sich an Regeln halten wollen. Und das sind eigentlich mehr als 90 Prozent. Die brauchen sich dann nicht mehr zu fragen: 'Muss ich auch auffällig werden, damit ich Aufmerksamkeit von den Lehrern bekomme?'
"Hauptschulen stärken"
tagesschau.de: Ist die Hauptschule gescheitert?
Böhm: Wenn wir die Schulform Hauptschule haben, müssen wir sie stärken - durch sozialpädagogische oder sonderpädagogische Fachkräfte.
tagesschau.de: In Berlin werden jetzt auch zusätzliche Sozialarbeiter an der Rütli-Schule eingesetzt. Ist das der richtige Weg?
Böhm: Ich kenne die Bedingungen an der Schule nicht im Detail und möchte mich zu ihr nicht äußern. Aber grundsätzlich gilt: Eine gute Schulleitung erkennt in der Regel frühzeitig, wo Problem existieren und ergreift Maßnahmen. Die Schulleitung ist ganz zentral für eine Schule. Wenn da jemand überfordert ist, gerade in soziale Brennpunkten, dann kriegen sie jede Schule kaputt. Die Schulleitung muss professionell mit diesen Problemen umgehen können. Dabei muss sie unterstützt und gestärkt werden. In Hamburg tun wir das recht erfolgreich mit einem Landesinstitut für Schulleiterweiterbildung.
Das Interview führten Eckart Aretz, tagesschau.de