Svenja Rüschmann, oberschenkelamputiert "In meinen Träumen habe ich immer zwei Beine"
Svenja Rüschmann steigt zu einem Freund aufs Motorrad. Plötzlich gerät er ins Schleudern, rast auf einen Baum zu. Er kann nicht mehr ausweichen. Svenjas Bein wird zerquetscht, es muss am Oberschenkel amputiert werden. Im Gespräch mit tagesschau.de erzählt sie, wie sie sich zurück ins Leben kämpfte.
tagesschau.de: Was war Ihr erster Gedanke, als Sie erfahren haben, dass Ihr linkes Bein am Oberschenkel amputiert wurde?
Rüschmann: Völlig irreal. Ich dachte, die erzählen mir Nonsens. Als mir dann klar wurde, dass ich wirklich mein Bein verloren habe, dachte ich noch ewig: "Warum ich?" und "Was wäre gewesen, wenn ich....?" Ich dachte, dass das Leben jetzt vorbei ist. Damit kannst du nichts mehr machen, du bist jetzt ein verkrüppelter Mensch.
tagesschau.de: Der Unfall passierte, als Sie 17 Jahre alt waren. Das ist ein Alter, in dem man gerade erwachsen wird und zu sich selbst finden muss. Wie hat der Unfall Ihr Selbstbild beeinflusst?
Rüschmann: Das war schwierig. Ich habe zunächst ein Jahr gebraucht, um überhaupt wieder klar zu sehen und mich wieder als Mensch wahrzunehmen. Im Krankenhaus ist man ja nur der Kranke. Später habe ich aber dann im Krankenhaus Neuankömmlingen geholfen, die gerade einen Arm oder ein Bein verloren hatten. Das hat mir selbst dann auch sehr geholfen. Dass ich mich selbst wiedergefunden habe, war ein Prozess von fast fünf Jahren. Erst dann konnte ich meine Amputation komplett annehmen und damit auch gut leben.
Heute sehe ich mich eigentlich als Mensch mit zwei Beinen. Auch wenn ich träume, träume ich immer von mir als Mensch mit zwei Beinen. Dabei haben mir die positiven Reaktionen meiner Umwelt sehr geholfen.
"Das kann man keinem zumuten"
tagesschau.de: Und wie sehen Sie andere?
Rüschmann: Es kommen schon manchmal sehr gemeine Bemerkungen. Ich erinnere mich an eine Szene am Strand. Da sagte jemand: "Das kann man ja keinem zumuten. Was machen Sie hier am Strand? Gehen Sie nach Hause."
Svenja Rüschmann wurde am 25.05.1980 in Bad Segeberg geboren. Mit 17 Jahren verlor sie bei einem Motorradunfall ihr linkes Bein vom Oberschenkel an. Seitdem bewältigt sie den Alltag mit Hilfe einer Beinprothese. Heute studiert sie in Kiel Englisch und Deutsch. Während ihres Studium arbeitete sie ein Jahr als Assistenzlehrerin in Leicester. Großbritannien. Ihr Ziel ist es als Lehrerin an einem Gymnasium zu unterrichten. In ihrer Freizeit arbeitet sie für die Fachschaft der Anglistik und geht regelmäßig schwimmen.
Ich habe am Strand aber auch schon sehr Witziges erlebt. Ein kleines Mädchen kam zu mir und sagte: "Oh, du hast ja nur einen Badelatschen." Worauf ich sagte: "Ja, ich hab ja auch nur ein Bein." Die Mutter war ganz erschrocken, bis sie dann merkte, dass das ganz normal und in Ordnung war. Die meisten reagieren aber mit Neugierde. Manche reden allerdings auch hinter meinem Rücken über mich oder gucken. Da wünsche ich mir wirklich, dass sie offener auf einen zugehen würden und so eine Behinderung eher als normal angesehen würde.
tagesschau.de: Was hat sich für Sie in Partnerschaften verändert?
Rüschmann: Eigentlich hat es sich zum positiven verändert (lacht). Vorher wusste man nie, wie ernst es ein Junge mit einem meinte. Und jetzt weiß ich eben: Wenn einer Interesse hat, dann muss er meine Behinderung akzeptieren. Das ist natürlich ein großer Punkt, aber seitdem haben meine Partnerschaften länger gehalten. Trotzdem hemmt das natürlich auch. Keiner sagt gerne in intimen Situationen: "Hey, ich gehe kurz mal mein Bein ausziehen, bin gleich wieder da." Wenn ich jemanden neu kennen lerne, wissen sie aber schnell, was los ist und können entscheiden, ob sie gehen oder bleiben. Das ist nicht immer einfach. Da muss man schon stark sein. Gerade jetzt, wo ich schon länger Single bin, schiebe ich das schon mal aufs Bein, weil man dann denkt: "Na ja, wer will so was schon haben?"
"Ich freue mich auf Neues"
tagesschau.de: Gibt es für Sie Grenzen, jetzt und in der Zukunft?
Rüschmann: Es gibt natürlich körperliche Grenzen. Gewisse Sportarten kann ich nicht machen. Ich bin nicht so schnell auf den Beinen und es gibt Tage, wo ich vor Schmerzen gar nicht laufen kann. Psychisch kann es dann auch mal vorkommen, dass ich nicht mehr kann. Dann fehlt mir für Neues manchmal der Mumm. Oder ich kann es nicht umsetzen: Ich wollte zum Beispiel anfangen zu boxen. Leider macht da die Technik der Prothese noch nicht mit. Aber sonst freue ich mich immer wieder auf Neues, das ich austesten kann.
Und eigentlich lebe ich wie ein Mensch auf zwei Beinen. Ich fahre Auto mit Automatik, ich schwimme, ich tanze, ich versuche alles mitzumachen, was geht. Ich habe sogar eine Werbe-Fotoshooting für eine Firma gemacht, die Prothesen herstellt. Das hat unheimlich Spaß gebracht. Auf zwei Beinen hätte ich die Möglichkeit zu modeln bestimmt nicht gehabt. Manchmal gehe ich zwar wirklich an meine Grenze, aber es lohnt sich.
Das Interview führte Renate Kusche für tagesschau.de