Theologe Mieth zu Patientenverfügungen "Der Patientenwille sollte Vorrang haben"
Patientenverfügungen werden oft so früh verfasst, dass sie im Fall einer schweren Krankheit überprüft werden sollten. Das rät der Theologe Dietmar Mieth im Gespräch mit tagesschau.de. Und er weist darauf hin: Patienverfügungen sind nicht in allen Fällen bindend.
Patientenverfügungen werden oft so früh verfasst, dass sie im Fall einer schweren Krankheit überprüft werden sollten. Das rät der Theologieprofessor Dietmar Mieth. Im Gespräch mit tagesschau.de weist er darauf hin, dass Patientenverfügungen nicht zwingend bindend sind. In der akuten Situation hätten die Entscheidung des Arztes sowie die Haltung der Angehörigen und der vom Kranken Bevollmächtigten bisher eine hohe Bedeutung.
tagesschau.de: Es gibt schwere Erkrankungen, in denen sich Menschen der Umwelt nicht mehr mitteilen können. Muss man diesen Menschen nicht helfen, vielleicht sogar beim Sterben?
Mieth: Die Frage ist, welche Zeichen diese Menschen geben und wie ihnen geholfen werden kann. Wir reden in diesem Zusammenhang über Menschen in verschiedensten Zuständen. Die kann man nicht über einen Kamm scheren. Viele Patienten können sehr wohl noch Zeichen geben, auch wenn sie nicht bei Bewusstsein sind. Und wir binden die Menschenwürde und das Person-Sein ja nicht einfach nur ans Bewusstsein.
tagesschau.de: Wie können Menschen ohne Bewusstsein Zeichen geben?
Mieth: Ich habe zwei Jahre lang einen 90 Jahre alten Lehrer regelmäßig besucht. Im November 2005 ist er gestorben. Während dieser Zeit war er nicht bei Bewusstsein, konnte sich nicht aufrichten, war teilweise gelähmt und konnte nicht sprechen - aber nichtsdestotrotz konnte man deutlich erkennen, dass er sich in der Fürsorge geborgen fühlte.
"Arzt und Betreuer einbeziehen"
tagesschau.de: Sollte man nicht Menschen helfen zu sterben, wenn die Krankheit unerträglich ist - vor allem wenn sie das selbst in einer Patientenverfügung festgelegt haben?
Mieth: Ob sie es unerträglich finden, kann man mit einer Patientenverfügung nicht absolut feststellen. Denn die Patientenverfügung wird im Voraus erstellt, muss also einen Zustand vorausnehmen, den der oder die Betreffende gar nicht kennt. Dieses Problem gibt es oft: Dass Menschen den gefürchteten Zustand in der tatsächlichen Situation anders sehen als vorher. Mit dieser Änderung muss man rechnen. Ohnehin ist ja an die Verfügung geknüpft, dass Arzt und Betreuer in die Entscheidung einbezogen werden. Man muss einen Rest von Entscheidungsfreiheit auch den Betreuern überlassen.
tagesschau.de: Den Angehörigen und dem behandelnden Arzt?
Mieth: Ja, den Bevollmächtigten, die ich selbst in meine Patientenverfügung eingesetzt habe. Und möglicherweise dem Betreuer, der bestellt wird, dem Arzt und den Pflegekräften. Die Selbstbestimmung, die über die Patientenverfügung gewährleistet werden soll, hat schon Vorrang. Die Verfügung kann aber nicht vollkommen rücksichtslos durchgesetzt werden. Man muss bedenken, dass der Patient sonst eventuell nicht an seiner Krankheit stirbt, sondern etwa an der Beendigung einer lebenserhaltenden Behandlung. Die Selbstbestimmung ist zwar wichtig, aber eine neuerliche Beratung in der aktuellen Situation ist auch für die Fürsorgenden von entscheidender Bedeutung.
"Keine Beratung bei Sterbeverkürzung"
tagesschau.de: Das ist doch auch der momentane Stand der Dinge. Es wird beraten und es liegt in der Verantwortung des Arztes, was er unternimmt oder lässt.
Mieth: Ja, die Patientenverfügung ist ein wichtiger Hinweis, aber sie ist nicht fraglos bindend, sondern es ist noch eine Beratung zwischengeschaltet. Jetzt will man ein Stück weitergehen. Die Frage ist nur, wie weit. Die Patientenverfügung sollte nach Auffassung der Enquete-Kommission des Bundestages - und ich teile diese Meinung - weiterhin nicht ohne Beratung bindend sein, wenn das Leben des Patienten verkürzt wird, also nicht absolut sicher ist, dass der Patient an seiner Krankheit sterben wird. Dann sollte ein Konzil zwischengeschaltet werden und es sollte eine gerichtliche Prüfung vorgenommen werden.
Im Gegensatz zu jetzt sollte aber diese Beratung in Zukunft nicht mehr vorgeschrieben sein, sondern die Patientenverfügung bindend sein, wenn es sich um eine Sterbeverkürzung handelt. Sterbeverkürzung heißt: Der Zeitraum, in dem der Patient an dieser Krankheit sterben wird, ist absehbar. Die Einführung der Sterbehilfe - also Tötung auf Verlangen - steht hier in Deutschland gar nicht zur Debatte.
tagesschau.de: Im Grunde geht es mehr als Gesetzesvorlagen und Verfügungen. Es geht um die Angst vor dem Sterben. Was kann diese Gesellschaft tun, um diese Angst zu vermindern?
Mieth: Es ist schwer, alles planbar zu machen. Aber natürlich ist es auch schwer, sich selbst aus der Hand zu geben. Auch deshalb ist es gut, wenn man eine Patientenverfügung macht, denn es führt dazu, dass man mit seinen Verwandten, Freunden, Bekannten, seinem Arzt, vielleicht einem Juristen darüber redet.
"Nicht von Extremfällen ausgehen"
tagesschau.de: Zumindest die Angst vor dem Sterben unter Schmerzen kann den Menschen genommen werden. Denn es ist ja erlaubt, Mittel zu verabreichen, die den Schmerz ausschalten oder stark mindern, auch wenn sie schneller zum Tod führen.
Mieth: Es ist tatsächlich so, dass eine Verkürzung des Sterbens in Kauf genommen werden darf, wenn man dabei das Leiden verringern kann. Das wäre die indirekte Sterbehilfe und die ist nicht verboten. Die Spezialisten der Paliativmedizin, der "Schmerzlinderungsmedizin", sagen, dass man jedem Menschen das Leiden ersparen kann. Sicher gibt es auch Extremfälle, aber man sollte nie von einem einzelnen Extremfall ausgehend zentrale Regelungen schaffen.
Das Interview führte Nea Matzen, tagesschau.de