Interview mit Rafik Schami Integration ist eine leise und zähe Arbeit
Rafik Schami ist weltweit einer der bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller. In Damaskus geboren, emigrierte er 1971 nach Deutschland. In den 80er Jahren engagierte er sich dafür, der "Gastarbeiterliteratur Gehör zu verschaffen. Im Interview mit tagesschau.de sagt Schami, wie man Hetz-Predigern begegnen kann undwarum Deutschland einsehen sollte, dass es ein Einwandererland ist.
tagesschau.de: Herr Schami, sie sind vor mehr als 25 Jahren aus Syrien weggegangen. Was hat sie damals bewogen, nach Deutschland zu kommen?
Schami: Es war ein Zufall. Ich wollte keinen Militärdienst in Syrien leisten und der Erstickung durch die Zensur entfliehen. Ich hatte drei Monate Zeit, um mein Land legal – für ein Auslandsstudium – zu verlassen. Ich habe zehn Universitäten angeschrieben und Heidelberg hat mir prompt eine Zulassung geschickt. Ich bin der Universität dafür dankbar solange ich lebe. Ohne mein Exil hätte ich all das nicht veröffentlichen können, was nun bereits in 24 Sprachen erschienen ist.
tagesschau.de: Wie sind Sie in Deutschland als Fremder aufgenommen worden? Hat man es ihnen leicht gemacht?
Schami: Ich fand und finde Deutschland wunderschön und habe kaum ein anderes Volk erlebt, das sich ernsthafter mit seiner Geschichte beschäftigt als die Deutschen. Trotz Rückschlägen und Versäumnissen! Und ich glaube fest daran, dass die jungen Deutschen sehr weit gekommen sind im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus, viel weiter als Jugendliche in anderen Ländern. Mir gegenüber waren die Menschen sehr gastfreundlich, aber ich gehöre zu den privilegierten Intellektuellen. Bei den "typischen" Gastarbeitern sieht die Lage anders aus.
Wir erleben eine kurzatmige Empörungswelle
tagesschau.de: In Deutschland wird zur Zeit kritisiert, dass vor allem die Integration der muslimischen Einwanderer gescheitert sei. Wie sehen Sie das?
Schami: Vieles läuft schief. Ein Großteil der Politiker denkt beim Wort Integration nur an Unterwerfung der Minderheit, welcher Herkunft sie auch sein mag. Und je konservativer die Partei, desto höher der Prozentanteil dieser Politiker. Sie vergessen, dass sich die Mehrheit bei einer demokratischen Integration anstrengen muss, die Würde der Minderheiten und die Kultur ihrer Herkunftsländer nicht zu verachten.
Integration ist ein gegenseitiger Prozess des Lernens. Was hat aber die deutsche Gesellschaft bisher über den Islam gelernt? Herzlich wenig. Was wir zur Zeit erleben, ist eine kurzatmige Empörungswelle. Ein Geschrei hallt durch das Land und verlangt nach Härte und neuen Gesetzen. Damit integrieren die Deutschen niemanden. Integration ist eine langwierige, leise und zähe Arbeit und hat mit Stimmung und Sensation nichts zu tun. Sie ist jedoch eine exzellente Möglichkeit Frieden zu praktizieren.
tagesschau.de: Muss es uns beunruhigen, dass türkische Mädchen freiwillig zum Kopftuch greifen?
Schami: Nein, muss es nicht - auch wenn die wenigsten Mädchen aus freien Stücken zum Kopftuch greifen. Aber im Ernst: Hätte man sich aufgeregt, wenn Lagerfeld, Armani oder die anderen Herren der Mode das Kopftuch als modisches Accessoire kreiert hätten? Wichtiger ist es, die Frage zu stellen, was ist schief gelaufen, dass die muslimischen Familien sich abkapseln. Eine der schlimmsten Ursachen ist Einsamkeit. In der Einsamkeit klammert man sich an einen Strohhalm und denkt, das sei ein Rettungsfloß.
tagesschau.de: Gibt es in Deutschland Parallelgesellschaften?
Schami: Es gibt Parallelgesellschaften, und sie sind vor allem für die Angehörigen der Minderheit gefährlich, weil sie im Dauerstress unter zwei Gesetzen leben, das der Mehrheit und ein zusätzliches ungeschriebenes, aber brutaleres Gesetz der Paschas und Mafiosi. Es ist auch für die Demokratie gefährlich, weil sich ihr dadurch große gesellschaftliche Bereiche entziehen. Auch in Little Italy und China-Town herrschen Doppelgesetze, einschließlich Doppelsteuer und Doppeljustiz.
tagesschau.de: Hilft es, wenn die muslimischen Prediger in der Moschee Deutsch sprechen, wie manche nun verlangen?
Schami: Nein, weil es wie eine Zwangsmaßnahme wirkt, die eher den Hetzern unter den Ausländern zugute kommt. Mit solchen Vorschlägen erzielt man gute Effekte in der Boulevardpresse. Aber es steckt kein langfristiges Konzept dahinter. Man muss sich ganz anders um die Kinder der Minderheiten kümmern, sie besser unterrichten, liebevoller aufnehmen, in der Praxis Demokratie erleben lassen – und diese Kinder werden jeden Hetzer aus eigener innerer Kraft in ein paar Jahren besiegen.
tagesschau.de: Wie kann der Staat wirkungsvoll gegen Hetz-Prediger und andere Radikale vorgehen?
Schami: Gründlich und entschlossen wie beim Schutz der Banken vor Räubern. Die Demokratie ist kostbarer als das ganze Gold in den Tresoren der Banken, und doch tritt der Staat hier manchmal so lasch auf, als schäme er sich, seine demokratischen Werte zu verteidigen. Die Politiker haben bisher immer nach schnellen Lösungen gesucht und die Jahre verstreichen lassen.
Die CDU tut so, als hätte die SPD die Türken erfunden
tagesschau.de: Die CDU möchte Einwanderer mit einer „Leitkultur“ auf deutsche Werte verpflichten. Einige Politiker schlagen gar vor, Einbürgerungswillige sollten auf das Grundgesetz schwören. Was halten Sie von solchen Plänen?
Schami: Wenn die CDU etwas leiser sprechen und sich auf ihren christlichen Glauben besinnen würde, nach dem man sogar den Feind lieben sollte, wäre sie mir sympathischer. Sie trägt als Partei, die dieses Land lange Jahre regiert hatte, Mitverantwortung für die heutigen Zustände. Alle Parteien waren beteiligt an der Entscheidung, türkische Gastarbeiter ins Land zu holen. Und alle, an erster Stelle die CDU, verantworten die Misere, dass die Industrie die Gastarbeiter ausgenützt hat und die Betreuung der Bevölkerung überlassen hat.
Die Menschen in Deutschland wiederum wurden nicht einmal fünf Minuten lang vorbereitet auf die Ankunft einer orientalischen Minderheit mit anderem Glauben und anderen Sitten.Und nun tut die CDU so, als hätte die rot-grüne Regierung die Türken erfunden. Sie sitzt nun mit verschränkten Armen in der Opposition und klopft ihre Stammtischsprüche.
tagesschau.de: Betrachten Sie sich als integriert? Sind Sie assimiliert? Ist Deutschland ihre Heimat ?
Schami: Seitdem ich pünktlich zur Bus- und Bahnstation gehe, bin ich angepasst, da ich bald begriffen habe, dass Winken gar keinen Fahrer dazu bewegt, anzuhalten. Ich bin gut integriert, aber nicht assimiliert. Die deutsche Sprache ist meine Heimat geworden, aber Deutschland bleibt für mich merkwürdigerweise ein Provisorium. Ich weiß nicht einmal warum. Damaskus ist die Heimat meiner Kindheit, deshalb hege ich eine große Liebe für diese Stadt. Ob ich sie jemals wieder betreten darf, ist dahingestellt. In Deutschland ist meine Familie (Frau und Sohn), hier ist mein Publikum und hier ist meine literarische Sprache.
tagesschau.de: Machen es sich die Deutschen auch dadurch schwer, dass sie kein Einwanderungsland sein wollen?
Schami: Ja. Faktisch sind wir ein Einwanderungsland, aber das wird ignoriert. Als ob die Sonne dadurch verschwindet, dass man sich die Augen zubindet. Man kann und soll debattieren, ob Deutschland weitere Einwanderung braucht oder nicht. Stattdessen führen wir Stellvertreterdebatten über das Kopftuch und volle Boote. Lieber sollten wir über Wege nachdenken, die bereits Eingewanderten einzugliedern und nicht zu verunsichern.
tagesschau.de: Sie haben einmal gesagt, im Umgang mit Fremden solle man sich Goethe zum Vorbild nehmen. Inwiefern?
Schami: Goethe hatte etwas Anti-Provinzielles. Der alte Meister hat das Leben durchschaut und sein Herz und Hirn gegenüber dem Fremden aufgeschlossen. Er liebte andere Kulturen und hat nicht schlecht davon profitiert. Er blieb ein Deutscher, dazu ein Geheimrat, aber in seinem Herzen wohnte die Welt. Heute wünsche ich mir mehr solche Intellektuelle unter den Deutschen.
Das Gespräch führte Christine Kahle, tagesschau.de