Interview

Interview Kirchhof "Eine große Steuerreform muss kommen"

Stand: 10.12.2003 16:00 Uhr

Wenn das Gesamtpaket zum Vorziehen der Steuerreform nicht erreicht wird, dann wenigstens so viel wie möglich. Das forderte Paul Kirchhof, Ex-Verfassungsrichter und Urheber eines radikalen Reformmodells schon vor der Einigung auf eine halbe Steuerreform. Im Interview mit tagesschau.de erklärt er, warum trotzdem dringend eine große Steuerreform kommen muss.

tagesschau.de: Herr Kirchhof, einer der zentralen Streitpunkte im Vermittlungsausschuss ist das Vorziehen der letzten Steuerreform-Stufe. Aus Ihrer Sicht: muss das kommen?

Paul Kirchhof: Es gibt nur zwei Lösungen. Entweder es kommt dieses Vorziehen, dann aber finanziert durch Steuer-Subventionsabbau. Das wäre der erste kleine Schritt in die große Reform. Oder diese kleine Reform scheitert, dann aber - damit die Menschen nicht zu sehr enttäuscht sind - mit dem Versprechen, in naher Zukunft den großen Wurf, die große Reform zu machen. Eine andere Alternative für das Steuerrecht gibt es eigentlich nicht.

tagesschau.de: Wäre eine höhere Neuverschuldung für das Vorziehen der Steuerreform wirklich ein zu hoher Preis?

Kirchhof: Ja, weil wir angesichts von 1,3 Billionen Euro Staatsverschuldung jetzt nicht Steuersenkungen versprechen können und gleichzeitig Steuererhöhung durch Verschuldung organisieren dürfen. Verschuldung heißt, wir nehmen einen Kredit auf, der mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt werden muss. Deswegen gibt es in einer mittelfristigen Perspektive keine Möglichkeit, heute Steuerentlastungen zu gewähren bei gleichzeitiger Erhöhung der Staatsverschuldung.

tagesschau.de: Wenn die Steuerreformstufe vorgezogen wird, hat das beim derzeitigen Konjunkturklima überhaupt einen Effekt?

Kirchhof: Das ist schwer einzuschätzen. Es kommt nicht auf die konkrete Einzelmaßnahme an, sondern auf das Vertrauen der Beteiligten im Wirtschaftsprozess, ob sie diesem Staat eine fundamentale Erneuerung im Steuerrecht, im Sozialrecht, im Arbeitsrecht und in vielen anderen Rechtsbereichen zutrauen. Wichtiger als die konkrete Einzelmaßnahme, so bedeutsam die sein mag, ist die Frage, ob hier ein Vertrauen in die langfristige Reformfähigkeit dieses Staates begründet und möglicherweise dann auch vertieft wird.

tagesschau.de: Im Vermittlungsausschuss wird nicht nur über die Steuern geredet - muss das Gesamtpaket kommen oder wäre auch eine Teileinigung sinnvoll?

Kirchhof: Wünschenswert wäre das Gesamtpaket, wenn das nicht erreichbar wäre, so viel wie möglich. Es kommt nicht auf die Reform für sich genommen sondern auf den Inhalt der Reform an, dass dem Menschen ein Stück Freiheit zurückgegeben wird, etwa im Steuerrecht. Die vielen Tatbestände, die den Menschen lenken wollen, ihn veranlassen wollen, sich vor dem Steuerrecht in ökonomischen Torheiten zu verbeugen, wenn diese wegkommen, ein Befreiungsschlag stattfindet - das ist das Entscheidende und darauf wird es in den nächsten Tagen ankommen.

tagesschau.de: Beim Subventionsabbau liegt von den Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück ein konkreter Vorschlag vor, Zielmarke zehn Prozent Abbau, im Gespräch ist auch mehr. Wenn man sich sonst nicht einigen kann, wäre diese pauschale Kürzung ein annehmbarer Ersatz?

Kirchhof: Jeder Schritt in den Subventionsabbau ist gut. Wichtig ist, dass man alle Subventionen gleichmäßig abbaut, damit nicht einer sein Privileg behalten darf und die anderen darauf verweisen, wenn der sein Privileg behalten darf, will ich meines auch behalten. Aber die große Vereinfachung ist damit natürlich nicht erreicht. Es wäre ein erfreulicher Schritt, aber ein kleiner Schritt.

tagesschau.de: Der Union droht beim Scheitern der Verhandlungen der Vorwurf, die Reformbemühungen blockiert zu haben. Halten Sie diesen Vorwurf für berechtigt?

Kirchhof: Ich meine, es stellt sich weder für die Regierung noch für die Opposition die Möglichkeit, Nein zu sagen. Die Politiker haben jetzt glücklicherweise so deutlich in aller Öffentlichkeit gesagt, dass eine große Steuerreform kommen muss, dass man hier die Politik zu Recht beim Wort nehmen wird. Letztlich stehen deshalb alle im Parlament vertretenen Parteien nur noch vor der Frage: Wie und in welcher Zeit wollen wir die große Reform verwirklichen? Nein zu sagen, ist eine Alternative, die sich keinem stellt.

"Nur ein einfaches Steuerrecht kann allen gerecht werden" - Im Interview Teil 2 erklärt Paul Kirchhof, warum eine radikale Steuerreform notwendig ist.

Die Fragen stellte Wolfram Leytz, tagesschau.de