Interview mit einer entschädigten Zwangsarbeiterin ''Du bist jung, du musst hier raus''
Die 83-jährige Lili Alpar gehört zu den ehemaligen Zwangsarbeitern der NS-Zeit, die entschädigt worden sind. Im Gespräch mit tagesschau.de erzählt sie ihre Geschichte und über ihr Leben als Jüdin in Deutschland.
tagesschau.de: Frau Alpar, welche Form von Zwangsarbeit haben Sie erlebt?
Lili Alpar: Als Hitler 1941 Jugoslawien angriff, stand ich kurz vor dem Abitur. Aber wir Juden mussten die Schule verlassen. Wir Jugendlichen wurden zur Zwangsarbeit abkommandiert: Ein Ghetto sollten wir bauen, unser eigenes. Jeden Morgen mussten wir zu Fuß sieben, acht Kilometer vor die Stadt, und abends wieder zurück. Wir mussten den Boden umgraben und Balken für die Baracken schleppen. Ich war ungefähr von März bis Juni 1942 dabei, dann bin ich geflüchtet. Die anderen, die geblieben sind, wurden in der zweiten Juli-Hälfte in das Ghetto gebracht. Im August hat man sie alle nach Auschwitz transportiert. Vier haben überlebt.
tagesschau.de: Wie haben Sie es geschafft zu flüchten?
Alpar: 1942 hat die jüdische Gemeinde in unserem Ort es geschafft, eine bestimmte Zahl Kinder aus einem Lager frei zu bekommen. Meine Eltern nahmen drei Kinder zu sich. Ein Mädchen hatte in einem Kopftuch zwei, drei persönliche Dinge aus dem Lager geschmuggelt, darunter ein kleiner Zettel mit der Adresse ihres Onkels in Ungarn. Meine Eltern nahmen Kontakt zu ihm auf, kurze Zeit später flüchteten das Mädchen und ich zu ihm. Von dort aus ging es für mich weiter zu den Verwandten meines Vaters, der aus Ungarn stammte. Sie besorgten mir eine falsche Geburtsurkunde. Demnach war ich dann Christin und ein uneheliches Kind – damit man nicht in so viele Richtungen meine arische Abstammung überprüfen konnte. Dann kam ich nach Budapest. Dort habe ich drei Jahre lang in einer Fabrik gearbeitet. Ich werde nie meinen Kollegen vergessen, der immer behauptet hat, Juden an ihren Füßen zu erkennen, weil alle Juden Plattfüße hätten. Ich habe immer gezittert, wenn ich gelaufen bin.
Ausgerechnet Deutschland
tagesschau.de: Wann kamen Sie nach Deutschland?
Alpar: Das war 1967. Nach Kriegsende ging ich zu meiner Schwester nach Belgrad. Dort habe ich meinen Mann kennen gelernt. Er arbeitete für einen Baukonzern, der ihn nach Deutschland schickte. Und so kam ich nach Frankfurt. Drei Jahre sollten wir hier bleiben. Daraus sind mittlerweile 40 geworden.
tagesschau.de: Wie hat Ihr Umfeld auf Ihre Entscheidung reagiert, nach Deutschland zu ziehen?
Alpar: Mit Unverständnis. Aber ich hatte damals eine Parole: Antisemiten gibt es überall. Wir versuchen es. Und die ersten 30 Jahre war es gut für uns in Deutschland. In den letzten zehn Jahren hat es sich verschlechtert. Es ist viel schlimmer geworden.
tagesschau.de: Wie haben Sie vom Stiftungsgesetz erfahren?
Alpar: Von meiner Schwester und meiner Cousine, mit der ich damals zusammen an dem Ghetto gearbeitet habe. Die beiden leben in Belgrad und hatten in der dortigen jüdischen Gemeinde davon gehört. Ich habe mich dann sofort gekümmert. Ich bin ja schon im fortgeschrittenen Alter, viel Zeit bleibt uns nicht mehr.
Blick nach vorn
tagesschau.de: Was war das für ein Gefühl, die Summe auf dem Kontoauszug zu sehen?
Alpar: Ich habe mich gefreut, dass ich etwas bekommen habe, materiell, moralisch. Aber es war auch traurig. Es hat wieder die Erinnerung zurück gebracht an die, die das Geld nicht mehr bekommen konnten, weil sie den Krieg nicht überlebt haben. Wir waren zusammen in der Schule und in der jüdisch-zionistischen Organisation. Und wir haben die schwere Arbeit gemeinsam machen müssen. Wir waren immer zusammen. Ich habe ihre Gesichter vor mir gesehen. Nach dem Krieg durfte ich nicht viel daran denken. Ich musste überlegen, wovon ich leben wollte, was ich machen wollte – es musste weiter gehen.
tagesschau.de: Was haben Sie mit dem Geld gemacht?
Alpar: Ich habe meine Familie nach Budapest eingeladen, meine beiden Kinder, meine vier Enkel. Um ihnen zu zeigen, wo ich überlebt habe. Das kann ihnen niemand wegnehmen. Das ist etwas, woran sie sich erinnern werden, wenn wir nicht mehr da sind. Und wenn jemand behaupten wird, all das sei nie passiert, dann können sie sagen: Nein, meine Oma hat das überlebt. Ich habe es gesehen.
tagesschau.de: Können Sie Aussagen ehemaliger, nun entschädigter Zwangsarbeiter wie „Jetzt kann ich in Ruhe sterben“ unterstreichen?
Alpar: Nein. Ich habe mich gefreut, sicherlich. Aber ich habe nach dem Krieg noch so viel erlebt – diese Zahlung war nicht so ausschlaggebend für mein Leben. Ich war vorher schon zufrieden.
Das Interview führte Nicole Diekmann, tagesschau.de.