Dialekte in der deutschen Gebärdensprache Haarschneiden oder Wurst essen?
Dass ein Friese oft Schwierigkeiten hat, einen Oberbayern zu verstehen, ist nicht neu. Dass es diese Dialektprobleme aber auch bei Gehörlosen gibt, ist zumindest auf den ersten Blick überraschend. Aber auch in der Gebärdenspracher gibt es zwischen Bayern und Friesen Verständnisprobleme
Von Daniel Frick für tagesschau.de
Ein freundlicher gehörloser Münchener bietet einem gehörlosen Hamburger ein Würstchen an. Der Hamburger wird sich unter Umständen wundern, warum der Bayer ihm empfiehlt, zum Frisör zu gehen. Die Wurst wird im Süden und Norden unterschiedlich beschrieben. Die Bayern führen Zeige- und Mittelfinger ans Ohr. Der Norddeutsche beschreibt dagegen die Wurst mit einem leichten wurstförmigen Bogen vor der Brust. Auf solche Unterschiede im Dialekt müssen Gehörlose gefasst sein. Eine einheitliche deutsche Gebärdensprache gibt es nicht.
Gebärdensprache lange Zeit unterdrückt
Die Gebärdensprache war in Deutschland lange Zeit verpönt. Die Pädagogen im 19. Jahrhundert setzten auf so genannte Oralität. Sie haben versuchten, den Gehörlosen Lippenlesen und Sprechen beizubringen. Für Gebärden gab es mit dem Rohrstock auf die Finger. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde mehr und mehr mit Gebärden gearbeitet. Erst seit 2002 sei die deutsche Gebärdensprache als allgemeine Sprache anerkannt, erklärt Christoph Heesch vom Gehörlosenverband Hamburg. Sie hat eine eigene Grammatik, die deutschlandweit einheitlich ist. Nur bei den Zeichen, die mit den Händen ausgeführt werden und der dazugehörenden Gestik und Mimik gibt es Unterschiede.
Unterschiedliche Wochentage
Ein Beispiel: Die Gebärden für Wochentage sind in Nord- und Süddeutschland komplett verschieden. Der Sonntag wird im katholischen Süden mit einer betenden Hand vor der Brust beschrieben, im Norden wird sich mit der flachen Hand an der Brust runtergestrichen. Eine Gebärde, die für feine Sonntagshemden stehen soll.
Trotzdem kommt es meistens nur zu kleinen Missverständnissen zwischen Gehörlosen aus unterschiedlichen Regionen. Unterstützend zur Gebärde gibt immer noch das Mundbild. Der Gehörlose kann parallel zur Gebärde das Wort und die Sätze mit seinem Mund formen oder seine Gefühle ausdrücken. So lässt sich eine anscheinend widersprüchliche Gebärde auch durch den Zusammenhang im richtigen Sinn erschließen. Sollten alle Stricke reißen, gibt es das Fingeralphabet. Das ist deutschlandweit einheitlich. Wörter werden einfach buchstabiert.
Ein bisschen komplizierter ist es, wenn eine Gebärde nur in einer Stadt existiert. So bedeutet die Gebärde für "auf etwas zugehen" in Hamburg "in meinem Besitz". Wenn der Hamburger "Ist das dein Fahrrad?" fragt, versteht der Rest der Republik "Ist das zu Fahrrad gehen?" "Wer mit Gebärden sprechen will, muss also immer beweglich im Kopf bleiben", sagt Stefan Goldschmidt, gehörloser Dozent an der Universität Hamburg.
Einheitliche deutsche Gebärdensprache?
Dass sich in Deutschland in den nächsten Jahren eine einheitliche Gebärdensprache ausbilde sei eher unwahrscheinlich, meint Christoph Heesch. Die gibt es aber zum Beispiel in den USA. Hier wurde in den sechziger Jahren eine American Sign Language (ASL) entwickelt, die auch unter amerikanischen Hörenden eine beliebte Fremdsprache ist. Davon ist Deutschland noch entfernt. "Allerdings ist zu beobachten, dass junge Gehörlose wesentlich mobiler sind als die ältere Generation und sich automatisch Gebärden aus unterschiedlichen Regionen aneignen", meint Stefan Goldschmidt. Es komme dadurch zu einer Durchmischung der Dialekte.
Dafür sorgen auch bestimmte Fernsehprogramme: Die Tagesschau auf Phoenix übersetzen Gebärdensprachdolmetscher aus Köln. Wer die Nachrichten verstehen will, muss sich also in den rheinischen Dialekt hineindenken. Gebärdenneuschöpfungen wie "Hartz IV" – ein Schlag auf die linke Brust für "Herz" und dann vier Finger zeigen – könnten so Standard werden.
Internationale Verständigung
Jedes Land hat seine eigenen Gebärden. Die Gehörlosen unterhalten sich wie die Hörenden in gleicher Situation mit Händen und Füßen, mit sehr bildlichen Gebärden und Pantomimen. Die Brandschutzversicherung ist in Deutschland eine einzelne Gebärde. International wird mit beiden Händen ein Dach geformt (Haus), eine besorgte Mimik gemacht und mit allen Finger gewackelt (Feuer) und dann mit einer Hand Daumen gegen Mittelfinger und Zeigefinder gerieben (Geld). Es gibt also Geld, wenn das Haus abbrennt – alles klar: eine Versicherung.