Interview mit Wirtschaftsexperte Hickel ''Reformen setzen am falschen Ende an'' 06.05.03
Die Agenda 2010 trägt nicht dazu bei, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist falsch, die Ursache der Krise im Fehlverhalten der Arbeitslosen und der Beschäftigten zu suchen", sagte der Wirtschaftsexperte Rudolf Hickel im Interview mit tagesschau.de. Hickel ist Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Bremen und Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.
tagesschau.de: Sind die Reformvorschläge der Bundesregierung das richtige Rezept, um die Arbeitslosenzahlen zu senken?
Hickel: Nein, denn die Agenda 2010 trägt nicht dazu bei, das Wirtschaftswachstum zu stärken und damit neue Jobs zu schaffen. Und wenn man nichts tut, um das Wachstum zu stärken, wird man das Problem auf dem Arbeitsmarkt nicht lösen. Es ist falsch, die Ursache der Krise im Fehlverhalten der Arbeitslosen und der Beschäftigten zu suchen.
tagesschau.de: Die Bundesregierung schlägt vor, Arbeitslose dazu zu verpflichten, offene Stellen anzunehmen. Das bringt doch mehr Menschen in Arbeit.
Hickel: Die Frage ist doch, um welche Jobs es sich dabei handelt. Meines Erachtens will man damit Arbeitslose schneller in den Niedriglohnsektor lenken.
tagesschau.de: Aber ist es nicht besser, die Menschen haben Arbeit, als dass sie arbeitslos sind?
Hickel: In jedem Fall. Wenn einem Arbeitslosen ein Job angeboten wird, bei dem er mehr verdient als zuvor durch Arbeitslosengeld - oder hilfe, dann gibt es überhaupt keinen Zweifel. Meine Sorge ist eine andere. Ich fürchte, dass Tagelöhner-Jobs entstehen, von denen einer nicht ausreicht, den Lebensunterhalt zu finanzieren. Zum anderen ist das für die Betroffenen eine Einbahnstraße. Sie werden nicht weiterqualifiziert und kommen da nie mehr raus.
tagesschau.de: Könnte die geplante Lockerung des Kündigungsschutzes mehr Arbeitsplätze bringen?
Hickel: Wir haben doch bereits eine hohe Flexibilität, zum Beispiel durch befristete Verträge oder durch Leiharbeit. Ein kleiner oder mittelständischer Unternehmer würde sofort einstellen, wenn er genügend Aufträge hätte. Das Hauptproblem ist nicht der Kündigungsschutz, sondern die mangelnde Nachfrage auf dem Markt. Schröders Strategie setzt am falschen Ende an.
tagesschau.de: Wie sähe denn die richtige Strategie aus?
Hickel: Es ist doch so: Die Konsumenten sind im größten Käuferstreik, den wir je gehabt haben in der Bundesrepublik. Das heißt, man muss der Binnenwirtschaft Impulse geben. Die Finanzpolitik hat hier die Aufgabe, antizyklisch gegenzusteuern. Das heißt: Erstens, wenn es konjunkturbedingte Defizite gibt, dann muss man die hinnehmen. Zweitens: Wir brauchen ein öffentliches Investitionsprogramm, drittens: Wir benötigen eine aktive Arbeitsmarktpolitik, Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen.
tagesschau.de: Um das zu finanzieren, müsste die Regierung zusätzliche Schulden aufnehmen. Deutschland überschreitet aber jetzt schon das Masstricht-Kriterium von 3 Prozent Defizit im Staatshaushalt.
Hickel: Die Maastricht-Kriterien sind falsch. Die wurden gemacht, um die Inflation in der EU einzudämmen. Aber wir haben heute kein Inflations-, sondern ein Beschäftigungsproblem. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich halte es auch für unseriös, ständig Schulden zu machen. Aber ich sage: Der Staat sollte in einer Krisensituation, wie wir sie jetzt haben, ein Investitionsprogramm finanzieren. Das schafft zusätzliches Wachstum, neue Arbeitsplätze, mehr Steuereinnahmen für den Staat. Und damit saniert sich der Haushalt, und die Schulden können wieder abgebaut werden.
tagesschau.de: Sie haben immer wieder für höhere Löhne plädiert, um die Kaufkraft zu stärken. Experten wie der ehemalige Wirtschaftsweise Peffekoven sagen dagegen, höhere Löhne führten nur zu weiteren Entlassungen.
Hickel: Das muss nicht sein. Es nutzt doch einem Unternehmer nichts, wenn er weniger Lohnkosten hat, dafür aber seine Produkte nicht verkaufen kann, weil die Nachfrage fehlt. Dann kann er den Gewinn, den er durch gesunkene Lohnkosten erzielt hat, nicht realisieren.
Das Interview führte Sabine Klein, tagesschau.de