Interview

Impfpflicht gegen Masern "Aufklärung ist alles"

Stand: 23.02.2015 18:04 Uhr

Der Tod eines kleinen Jungen in Berlin beweist es wieder: Masern sind gefährlich. Ob eine Impfpflicht den gewünschten Schutz bringt, bezweifelt der Mikrobiologe Uwe Groß im Interview mit tagesschau.de. Er setzt auf Aufklärung.

tagesschau.de: Warum können Masern so gefährlich werden, dass immer wieder, wie jetzt auch in Berlin, Menschen daran sterben?

Uwe Groß: Die Infektion durch Masern-Viren selbst kann bei einem Teil der Patienten zu einer Immunschwäche führen, die ihrerseits Komplikationen verursacht. Zum Beispiel kann es zu einer bakteriellen Super-Infektion kommen, zu einer Mittelohrentzündung oder einer Lungenentzündung.

Auch das Masern-Virus selbst kann zu einer Hirnhaut- oder Gehirnentzündung führen. Eine solche Komplikation einer Meningitis oder Enzephalitis verläuft meistens tödlich. Häufiger als in Deutschland sind Masernkomplikationen in afrikanischen oder asiatischen Ländern, wo gerade Kinder zum Beispiel durch Mangelernährung sich eh in einem schlechteren Allgemeinzustand befinden. 

Zur Person
Seit 1999 leitet Prof. Dr. Uwe Groß das Institut für medizinische Mikrobiologie der Universität Göttingen. Als Koordinator des dortigen International Health Network beschäftigt sich Groß unter anderem mit der globalen Verbreitung von Krankheiten.

tagesschau.de: Inwieweit haben sich die Masern von einer Kinder- zu einer Reisekrankheit entwickelt?

Groß: Die Globalisierung trägt ihren Teil zur Verbreitung der Krankheit bei, sei es durch Urlaubsreisen, sei es durch Flüchtlinge oder Migranten. Jede Bewegung trägt dazu bei, dass potenzielle Krankheitserreger nach Deutschland kommen. Der in Berlin festgestellte Masern-Stamm vom Genotyp D8 ist vor zwei, drei Jahren ursprünglich in Russland identifiziert worden und wahrscheinlich über Bosnien-Herzegowina nach Berlin gekommen.

"Deutschland hat eine Impflücke"

tagesschau.de: Woran liegt es, dass die USA und einige skandinavische Länder masernfrei sind, Deutschland aber nicht?

Groß: Zum einen ist Deutschland ein klassisches Aufnahmeland, vor allem für Menschen aus Südosteuropa. Zum anderen stellt sich die Frage nach dem Impfschutz der Bevölkerung. Die kritische deutsche Bevölkerung ist längst nicht mehr so impffreudig wie vor zehn oder 20 Jahren.

Außerdem hat Deutschland eine Impflücke, gerade bei den Masern. Dadurch kann sich das Virus immer wieder durchsetzen, wenn die sogenannte Herdenimmunität unter 95 Prozent liegt. Der hohe Prozentsatz ist erforderlich, weil Masern so hoch ansteckend sind. Wenn Sie Kontakt mit einem Masernpatienten haben und Sie sind nicht nach Impfung oder eigener Erkrankung immun, ist die Wahrscheinlichkeit extrem hoch, dass Sie sich erstens infizieren und zweitens auch erkranken.

tageschau.de: Lassen sich Menschen eher bewusst nicht impfen oder spielt der Zufall eine große Rolle? Dass also ein Impftermin schlicht vergessen wird?

Groß: Wird schon die erste Impfung nicht durchgeführt, handelt es sich meist um eine bewusste Entscheidung gegen die Impfung. Das kann anthroposophische oder philosophische Gründe haben oder auch die Angst vor potenziellen Nebenwirkungen sein. Wird die erste Impfung durchgeführt, die zweite aber nicht, ist dieser Termin hingegen meist schlicht vergessen worden.

Mehr Nutzen oder mehr Nebenwirkung?

tagesschau.de: Welche Risiken sind mit einer Impfung verbunden?

Groß: Jede Impfung kann Nebenwirkungen wie eine Reizung an der Einstichstelle, Fieber oder Kopfschmerzen haben. In Einzelfällen kann es auch zu einer Gehirnentzündung kommen. Dieses Risiko einer Impfung sollte aber abgewogen werden im Vergleich zu dem Risiko einer Infektion. Ich empfehle die Impfung, weil die Infektion mehr und höhere Risiken aufweist.

Besonders dramatisch ist die sogenannte "subakute sklerosierende Panenzephalitis". Eine solche Entzündung des gesamten Gehirns kann auch vier oder zehn Jahre nach einer Masernerkrankung auftreten. Eine große Studie der Universität Würzburg hat jetzt gezeigt, dass diese Komplikation häufiger vorkommt als bisher angenommen. Und diese Komplikation führt immer zum Tode.  

Kombiimpfstoff gegen Masern, Röteln und Mumps
Wie gefährlich sind Masern?
Masern sind eine hoch ansteckende Virusinfektion, die vor allem Kinder betrifft. In Deutschland kommt es immer wieder zu regionalen Ausbrüchen.

Der Erreger wird durch Tröpfchen übertragen, die beim Niesen, Husten oder Sprechen in die Atemluft gelangen. Die Krankheit beginnt mit grippeähnlichen Symptomen wie Fieber, Schnupfen und Husten, dann kommt der typische Hautausschlag hinzu. In zehn bis 20 Prozent der Fälle kommt es zu Komplikationen. In 0,2 Prozent aller Fälle verlaufen diese tödlich.

tagesschau.de: Impfgegner sind dagegen davon überzeugt, dass schwere Masernausbrüche wie jetzt auch in Berlin mit den Impfungen gegen Masern zusammenhängen, weil die Immunisierung nach einer Impfung weniger effektiv ist als nach einer durchgemachten Krankheit. Was halten Sie von dieser These?

Groß: Nochmal: Es gilt, die Nebenwirkung und den Nutzen der Impfung abzuwägen. Das Risiko, nach einer Infektion eine schwerwiegende Komplikation zu erleiden, ist hoch. Ich würde dieser Argumentation also nicht folgen wollen. 

tagesschau.de: Ist die Skepsis gegenüber Impfungen grundsätzlich größer geworden?

Groß: Ja. Allerdings könnte sich der Trend jetzt wieder umkehren. Kinder von impfkritischen Eltern kommen jetzt als meine Studenten auf mich zu und fragen mich nach Impfmöglichkeiten. Versteht man die Ablehnung der Impfung auch als eine Ablehnung von Staatlichkeit, könnte eine Impfpflicht kontraproduktiv wirken.

Zu einer funktionierenden Demokratie gehört eben auch Freiheit, auch die Freiheit der eigenen Entscheidung. Aufklärung ist der Ansatz, der am meisten Erfolg verspricht, will man die Herdenimmunität erhöhen. Aufklärung ist alles, und durch gute Aufklärung kann man sehr viel erreichen.

Zweimal impfen, ganzer Schutz

tagesschau.de: Wann und wie muss gegen Masern geimpft werden, dass man ausreichend vor einer Ansteckung geschützt ist?

Groß: Empfohlen wird eine zweifache Impfung im Abstand von vier bis sechs Wochen. Die erste liegt am besten zwischen dem elften und dem 14. Monat, die zweite vom 15. bis zum 23. Monat. Aber die Ständige Impfkommission, die in Deutschland darüber berät, welche Impfungen wann im Allgemeinen und für wen im Besonderen sinnvoll sind, diskutiert darüber, ob man die erste Masern-Impfung nicht auf den neunten oder sogar sechsten Monat vorziehen sollte.

Denn auch in diesem Alter werden Kinder im Hort oder in der Krippe untergebracht und sind deshalb einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt. Auch für Erwachsene gilt: höchstmöglicher Impfschutz erst nach zwei Impfungen.

Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 23. Februar 2015 um 17:00 Uhr.