Außenminister Maas bei der Kabinettssitzung
Analyse

Maas und das Afghanistan-Debakel Der angezählte Minister

Stand: 19.08.2021 04:09 Uhr

Falsche Erwartungen, überhörte Warnungen und ein ausgebliebener Lagebericht zu Afghanistan: Außenminister Maas wird für die Fehler am Hindukusch mitverantwortlich gemacht.

Eine Analyse von Isabel Reifenrath, ARD Berlin

Vor noch nicht allzu langer Zeit ist Bundesaußenminister Heiko Maas gerne nach Masar-i-Scharif geflogen, ins afghanische Hauptquartier der Bundeswehr. Die dortigen Bilder waren immer ein Garant für Medienaufmerksamkeit und gute Umfragewerte. Er traf sich dort mit Künstlerinnen und Frauenrechtlerinnen und flog für Gespräche mit der afghanischen Regierung nach Kabul.

"Komplettversagen der Bundesregierung"

Jetzt aber steht Maas vor einem außenpolitischen Scherbenhaufen. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Norbert Röttgen von der CDU sagte, in Afghanistan sei nicht nur vieles schief gegangen, es gebe ein menschliches Drama. Der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour hält Maas nicht allein für verantwortlich: "Heiko Maas ist federführend, aber wir haben hier ein Komplettversagen der Bundesregierung. Man hat einfach weggeschaut."

FDP-Vize Wolfgang Kubicki forderte den Rücktritt der Kanzlerin, der Bundesverteidigungsministerin und des Bundesaußenministers. "Sie haben das größte außenpolitische Desaster seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland zu verantworten", so Kubicki.

Falsche Informationslage oder falsche Schlussfolgerungen?

Maas hatte sich bereits am Montag für das Afghanistan-Debakel entschuldigt. Seitdem wiederholt er in Interviews aber immer wieder, dass nicht er allein die Lage falsch eingeschätzt habe. "Das ist die Fehleinschätzung, die die komplette westliche Gemeinschaft, die Bundesregierung, ich, unsere Dienste, aber auch viele Afghanen und Afghaninnen hatten. Sie dachten, Kabul würde sich länger halten."

Der Bundesnachrichtendienst ging offenbar noch am vergangenen Freitag davon aus, dass Kabul frühestens im September an die Taliban fallen könnte. Hätten die afghanischen Soldaten gegen sie gekämpft, wäre dieses Szenario vielleicht realistisch gewesen.

Die afghanischen Soldaten waren in der Überzahl. Nur offenbar lehnte die afghanische Regierung einen Bürgerkrieg ab und war nicht bereit, Kabul noch für eine gewisse Zeit zu halten. Laut der "New York Times" warnten amerikanische Geheimdienste bereits frühzeitig vor einem raschen Kollaps Afghanistans. Einen Austausch der Geheimdienste habe es gegeben, versicherte Maas im ZDF.

Evakuierung der deutschen Botschaft zu spät?

Auch einen offenen Gesprächskanal zwischen den USA und den Taliban gab es während der gesamten Zeit der Eroberungen der Provinzhauptstädte durch die Taliban. In den Friedensverhandlungen in Doha, der Hauptstadt von Katar, saß man zusammen. Die Bundesregierung hat erst jetzt den Afghanistan-Sonderbeauftragten Markus Potzel dort hingeschickt.

Das Auswärtige Amt hatte bereits seit längerem einen Evakuierungsplan für die deutsche Botschaft mit den USA abgestimmt - ein solches Szenario war also nicht für unmöglich gehalten worden.

Warnungen der Botschaft

Nach Recherchen des ARD-Hauptstadtstudios warnte die Deutsche Botschaft das Auswärtige Amt seit Wochen vor einer Gefährdung der eigenen Mitarbeiter. Das Auswärtige Amt gab die Freigabe zur Evakuierung aber erst am Sonntag. Zwei Tage nachdem Briten und US-Amerikaner bereits angefangen hatten zu evakuieren. Maas sagte im ZDF, die Evakuierung sei genauso gelaufen wie bei anderen Staaten auch.

Tatsächlich sollen aber rechtliche Fragen um das Bundestags-Mandat die Rettungsaktion ausgebremst haben. Im Auswärtigen Ausschuss erwarteten sich viele Bundestagsabgeordnete eine Erklärung dafür und wurden bitter enttäuscht. FDP-Außenpolitiker Bijan Djir-Sarai meinte, Maas habe nicht erklären können, wie es zu der Fehleinschätzung gekommen sei, dass Kabul nicht in die Hände der Taliban fallen werde.

Visavergabe für afghanische Ortskräfte verzögert?

Maas rechtfertigte die späte Evakuierung der deutschen Botschaft auch damit, dass die Mitarbeiter vor Ort hätten sein müssen, um afghanischen Ortskräften Visa ausstellen zu können. "Die Entscheidung würde ich jederzeit wieder so treffen", so Maas.

In den vergangenen Wochen hieß es vom Auswärtigen Amt immer wieder, die afghanischen Behörden verzögerten die Visavergabe, weil sie darauf bestünden, dass jeder, der ausreisen will, afghanische Papiere hat. Wie die Taliban jetzt wollte offenbar auch die afghanische Regierung nicht, dass die Ortskräfte der Bundeswehr und damit gut ausgebildete Fachkräfte das Land verlassen.

Drei Ministerien verantwortlich

Die Bundesregierung hatte sich entschieden, maximal 2500 afghanische Ortskräfte aufzunehmen. Diese Zahl wirkt nun höhnisch. Das Bundesverteidigungsministerium und das Bundesinnenministerium sind dafür verantwortlich.

Selbst wenn die Taliban den deutschen Geheimdienstberichten zufolge Kabul erst später eingenommen hätten, hätte man sich darüber im Klaren sein müssen, dass Journalistinnen, Frauenrechtlerinnen und alle Afghanen, die für deutsche Organisationen gearbeitet haben, dann unter den Taliban nicht mehr sicher leben können. Diese Erkenntnis hätte aus dem Auswärtigen Amt kommen müssen.

Lagebericht zu Afghanistan aus politischen Gründen verzögert?

Stattdessen hatte es seit Mai keinen neuen Lagebericht vom Auswärtigen Amt zur Sicherheitslage in Afghanistan gegeben. Dabei hätte der Abzug der westlichen Truppen Anfang Juli allein Anlass genug sein müssen. Wurde ein neuer Lagebericht absichtlich verzögert? Der Bundesaußenminister befürwortete Abschiebungen von Straftätern nach Afghanistan sehr lange - selbst als sich der Vorsitzende seiner eigenen Partei Norbert Walter-Borjans dagegen aussprach. Ein neuer Lagebericht hätte auch die Asylentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge beeinflusst. Das Ministerium untersteht Bundesinnenminister Horst Seehofer.

Bundesaußenminister Maas ist nicht allein verantwortlich für die chaotischen Evakuierungen, für die Fehleinschätzung der politischen Lage in Afghanistan oder für die Behandlung der afghanischen Ortskräfte. Mitverantwortlich ist er aber ganz sicher.

Dieses Thema im Programm: Dieser Beitrag lief am 19. August 2021 um 07:50 Uhr auf B5 aktuell.