Landräte vor Flüchtlingsgipfel "Brauche mich sonst nicht sehen lassen"
Bund, Länder und Kommunen beraten über den Umgang mit Geflüchteten. Landräte fordern neue Konzepte, weil Platz rarer wird - und der Unmut größer. Ein Stimmungsbild aus Sachsen und Brandenburg offenbart unterschiedliche Ansätze.
Er wisse noch nicht genau, wie er damit umgehen soll, was ihm am Montagabend widerfahren sei, sagt Rolf Lindemann, Landrat im Kreis Oder-Spree östlich von Berlin. Seit Beginn der Migrationskrise 2015 habe er Dutzende Bürgerversammlungen und Anwohnergespräche mitgemacht. Aber diese "blanke Ablehnung", die sei neu.
In der 1200-Einwohner-Gemeinde Wiesenau hat ein privater Vermieter dem Landkreis eine leerstehende Pension als Unterkunft für Geflüchtete aus der Ukraine angeboten. Bei einer Fragestunde sprachen sich die knapp 190 Anwesenden vehement gegen das Projekt aus, erinnert sich Lindemann. Man habe "konsequent darauf beharrt: Bei uns kommen keine Flüchtlinge in die Gemeinde", so der SPD-Politiker.
Dabei habe der Kreis viel getan. Schon 2016 wurden auf 120 Seiten Integrationsmaßnahmen und -ziele festgehalten. Im vergangenen Jahr sei die Hilfsbereitschaft für Menschen aus der Ukraine groß gewesen. Zwei Drittel von ihnen wären privat im Kreis untergekommen. Doch wo früher Neonazis gegen Unterkünfte protestieren, sei es nun die Mitte der Bürgerschaft, sagt Lindemann. Die AfD habe hier "ganze Arbeit geleistet".
Zahlreiche Protestbriefe gen Berlin
So wie Lindemann ergeht es derzeit vielen Kommunalpolitikern, die Menschen aus der Ukraine, Syrien oder Afghanistan in ihren Gemeinden und Kreisen unterbringen wollen und müssen. Nach der Aufnahme von rund einer Millionen Geflüchteter aus der Ukraine und dem Wiederanstieg von Asylanträgen aus anderen Ländern fällt es ihnen zunehmend schwer, Neuankömmlinge unterzubringen, auch wegen Widerstand aus Teilen der Bevölkerung.
Bundesweit bekannt wurde das Dorf Upahl in Nordwestmecklenburg, wo ein Container-Dorf für 500 Menschen entstehen soll. Der Kreis verkaufte das vor der entscheidenden Kreistagssitzung Ende Januar als letztes Mittel. Während eines Bürgerprotests bedrohten mehrere Rechtsextreme die Lokalpolitiker. Anderswo, in Bautzen, Sachsen, brannte wenige Tage nach einer Demo eine Unterkunft.
Vor dem für den morgigen Donnerstag anberaumten Flüchtlingsgipfel von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) mit den Innenministerinnen und -minister der Länder und den kommunalen Spitzenverbänden mehren sich die Hilferufe und Protestnoten, die aus der kommunalen Ebene an Faeser und Bundeskanzler Olaf Scholz gehen - und das über Parteigrenzen hinweg. Der grüne Landrat des Kreises Miltenberg, Jens Marco Scherf, hat sich gleich mehrfach aus dem Westen Bayerns an das Bundeskanzleramt gewandt und spricht von "Leistungsgrenzen".
Bautzener Landrat: Notfalls Grenzkontrollen
Erste Kreise im Osten treten in eine Art Verweigerungshaltung. Der Kreistag des Landkreises Bautzen in Sachsen beschloss im Dezember, Integrationsleistungen für abgelehnte Asylbewerber zu kürzen. Für den AfD-Antrag stimmte - trotz Kooperationsverbots - der Großteil der CDU-Fraktion. Landrat Udo Witschas, selbst in der CDU, verteidigte das Vorgehen. Auch eine neue Sammelunterkunft in der Stadt Hoyerswerda wollte der Kreistag nach Protesten nicht durchsetzen.
Wenige Tage später sagte Witschas in einer Weihnachtsansprache über die Unterbringung weiterer Geflüchteter, er werde keine Turnhallen freiräumen und den "Schul- oder Freizeitsport für diese Asylpolitik bluten zu lassen". Gleichzeitig habe er auch nicht die Absicht, "Menschen, die unsere Kultur nicht kennen", dezentral in Wohnungen und Mehrfamilienhäusern unterzubringen. Dafür gab es bundesweit Kritik.
Vor dem Gipfel äußerte Witschas sich schriftlich. Er fordert, dass künftig der Bund die Unterbringungs- und Integrationskosten der Landkreise übernehmen müsse. Diese stemmen aktuell zehn Prozent der Kosten.
Mit Geld allein sei es aber nicht getan, so Witschas. Er will ein größeres Umsteuern. Asylsuchende müssten besser in der EU verteilt werden - der Bund wiederum mehr Druck auf Herkunftsländer machen, damit diese ausreisepflichtige Menschen zurücknehmen.
Gemeinsam mit seinem Görlitzer Landratskollegen Stephan Meyer stellte sich Witschas Ende Januar hinter Sachsens Innenminister Armin Schuster (beide ebenfalls CDU). Schuster hatte vorgeschlagen, notfalls wieder Grenzkontrollen in Deutschland einzuführen, um Migration - mit Ausnahme von Ukrainerinnen und Ukrainern - zu begrenzen. Auch will Sachsens Landesregierung eigene Unterkünfte einrichten: eine Art Puffer für die Landkreise.
In den Kommunen fehlt es laut Landrat Witschas an zentralen und dezentralen Unterkünften. Sprich: an freien Wohnungen und größeren Unterkünften wie Hotels gleichermaßen. Das Minus in vielen Kreishaushalten lasse es nicht zu, dass neue Kapazitäten geschaffen werden.
Mittelsachsen: Kommunen können selbst handeln
Das sieht Dirk Neubauer anders. Der ehemalige SPD-Politiker und Landrat in Mittelsachsen sagt, in den letzten Jahren habe Politik immer wieder notgedrungen auf Schwankungen der Zuwanderung reagiert. Das müsse aber nicht so bleiben.
So liege das größte Problem im temporären An- und Abmieten von Unterkünften. Das koste die Kommunen Zeit und Geld. Die Nachfrage treibe die Preise nach oben. Die Unterbringung konzentriere sich hier zudem auf nur zwei Städte: Freiberg und das keine 8500 Einwohner fassende Hainichen. Diese Kommunen seien "objektiv betrachtet" überfordert, sagt Neubauer. Hinzu käme: Großfamilien oder alleinreisende Syrer seien selbst mit Aufenthaltstitel mitunter nicht vermittelbar.
Mittelsachsens Landrat Neubauer fordert langfristige Lösungen.
Neubauer will nun selbst investieren und im ganzen Kreis mehrere Unterkünfte dauerhaft vorhalten - auch dann, wenn zeitweilig weniger Menschen nach Mittelsachsen kämen. Eine Grundkapazität von 500 Plätzen kreisweit schwebt ihm vor. Das wäre in seiner Rechnung selbst bei nicht voller Auslastung auf Dauer günstiger. Neubauer hofft, so auch die Belegung von Kita- und Schulplätzen besser steuern zu können.
Vom Freistaat fordert er dafür, dass das Bundesland wie andere künftig Pauschalen für den kommunalen Anteil der Unterbringungskosten aushandelt. Bislang gehen Sachsens Kreise in Vorkasse. Neubauer sagt auch: "Wir brauchen Migration." Das sei gerade in Sachsen noch nicht überall angekommen.
Helfen könne der Bund, wenn er die Migrationspolitik ganzheitlich aufstelle. Für Neubauer gehören dazu Einwanderungsgesetz ebenso wie schnellere Abschiebungen von Mehrfachstraftätern, aber auch mehr Sprachkurse und Fortbildungsmaßen. Nur so könne Politik wieder "nachvollziehbar" werden.
"Stimmiges Gesamtkonzept" gefordert
Ähnlich hört sich das bei Rolf Lindemann an, dem Landrat vom Kreis Oder-Spree. Er wünscht sich, von dem Flüchtlingsgipfel ausgehend, dass künftig Fragen der Unterbringung, Integration, Abschiebung, Finanzverantwortung und Standards ganzheitlich angegangen würden. Denn, so der Landrat: "Ohne stimmiges Gesamtkonzept brauche ich mich bei der Bevölkerung hier nicht sehen lassen."
Für 2023 wurden Lindemanns Kreis 1600 neue Geflüchtete angekündigt. Für ein Viertel davon habe man Platz in bereits genutzten Unterkünften. Andere Bestände müssten allesamt erst ertüchtigt werden, Diskussionen vor Ort inklusive.
Eine Bundesimmobilie, wie von Bundesinnenministerin Faeser ins Spiel gebracht, nutzt der Kreis mit einer ehemaligen Polizeikaserne bereits. Weitere gibt es laut Lindemann nicht. In Sachsen, bei Udo Witschas und Dirk Neubauer, zeigt sich das gleiche Bild.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, in Wiesenau würde eine Privatinitiative eine Pension als Unterkunft anmieten wollen. Richtig ist, dass ein Privatvermieter das Gebäude dem Landkreis angeboten hat. Wir haben den Text entsprechend korrigiert.