Erinnerungen an Kohl Alles, was ein Machtmensch braucht
Instinktsicher, durchsetzungsstark und lebensfroh - so beschreibt der langjährige NDR-Korrespondent Dietmar Riemer Alt-Bundeskanzler Kohl. Der "Mann aus Oggersheim" sei lange Zeit unterschätzt worden. Am Ende hätten ihn seine Stärken aber verlassen.
NDR Info: Wenn Sie Kohl in drei Worten beschreiben sollten - welche würden Sie wählen?
Dietmar Riemer: Drei Worte ist sicher schwierig, aber das kriegt man hin: Kohl war absolut instinktsicher. Er war ungewöhnlich durchsetzungsstark, eben nicht nur durchsetzungsfähig, sondern auch durchsetzungsstark. Und ganz wichtig: Helmut Kohl war von einer geradezu elementaren Lebensfreude. Das hat man ihm auch immer angemerkt.
NDR Info: Warum instinktsicher?
Riemer: Er war mit allem ausgestattet, was so ein Machtmensch braucht, der in der ersten Liga der Weltpolitik spielt. Er hatte unglaublich starke Nerven. Er hatte eine phänomenale Ruhe. Von ihm ging eine Kraft aus, die manchmal sogar ins Brutale umschlug. Er hatte ein wahnsinniges Gedächtnis - er konnte sich an Kleinigkeiten erinnern, die man in fast keinem Archiv mehr gefunden hat. Er fühlte sich als politischer Großgrundbesitzer und ließ das die anderen auch spüren. Und aus all dem konnte er eine große Urteilskraft entwickeln.
Das heißt, er hatte einen Sinn für Machtlagen. Und das brachte ihm die Instinktsicherheit, die er brauchte, um in weltpolitisch gefährlichen Situationen wie zum Beispiel die Zeit der Wiedervereinigung oder der Nachrüstung ein Mann zu sein, an den man sich wenden konnte, von dem man wusste, dass man einen vernünftigen Beitrag zur Weltpolitik bekam - das durchzieht ja auch alle Reaktionen, die wir seit gestern gehört haben.
Seine Durchsetzungsstärke hatte er schon in seiner Zeit in Rheinland-Pfalz gezeigt, wo er Peter Altmeier, seinen Vorgänger als Ministerpräsident, geradezu rüde vom Stuhl stieß.
Die Lebensfreude schließlich merkte man ihm wirklich an. Er war ein absoluter Genussmensch und ließ das nicht nur Andere spüren, sondern sie auch daran teilhaben. Seine Saumagen-Feste waren nicht nur Legende, die haben wirklich stattgefunden.
NDR Info: Der "Mann aus Oggersheim" - so wurde er oft genannt, und häufig war das abschätzig gemeint. Ist Kohl zu Beginn seiner Kanzlerschaft unterschätzt worden?
Riemer: Er wurde nicht nur zu Beginn seiner Kanzlerschaft unterschätzt, sondern vor allen Dingen auch schon in der Zeit davor, als er Oppositionsführer war. Der vorherige Bundeskanzler Helmut Schmidt karikierte ihn, wo immer er konnte. Der damalige CSU-Chef Franz-Josef Strauß sprach in seiner berühmten Wienerwald-Rede bis ins Herabsetzende über Kohls Charakter.
Und ganz wichtig: Kohl war ein Mann, der den ästhetischen Ansprüchen der meinungsführenden Schicht im deutschen Journalismus nicht genügte. Angeblich konnte er noch nicht einmal richtig Deutsch. Man fasste das zusammen mit dem Stichwort "Die Walz aus der Pfalz". Darunter litt Kohl mehr, als er öffentlich zugab.
NDR Info: Was war seine größte Schwäche?
Riemer: Kohls größte Schwäche war, dass ihn diese Stärken spätestens 1995/96 völlig verließen. Da ruhte er dermaßen bräsig in sich, dass er keinerlei Kritik mehr an sich herankommen ließ. Er war fast beratungsresistent, und das zeigte sich ganz besonders in seinem Umgang mit Wolfgang Schäuble. Die Bundestagswahl 1998 hätte für die CDU nicht verloren gehen müssen, wenn er Schäuble zum richtigen Zeitpunkt zu seinem Nachfolger gemacht hätte.
Das Gespräch führte Regina Methler, NDR