Interview

Interview zu islamistischem Terrorismus "Al Kaida ist eine Art Geisteshaltung"

Stand: 22.11.2010 13:21 Uhr

Hamed Abdel-Samad war bei der ägyptischen Muslimbruderschaft, heute arbeitet er als Publizist in Deutschland. Im Interview mit tagesschau.de warnt er vor der weltweiten Gefahr durch Anschläge der "Do-it-yourself-Al-Kaida". Und er plädiert für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Phänomen.

tagesschau.de: Sie haben bei der islamistischen Muslimbruderschaft mitgemacht. Was war daran faszinierend?

Hamed Abdel-Samad: Wie die meisten Anhänger der Muslimbruderschaft in Ägypten war ich ein Student aus der Provinz, der in Kairo fremd im eigenen Land war. Die Muslimbrüder haben eine Gemeinschaft geboten. Es gibt den traditionellen Islam, der die Autoritäten achtet, der keine Revolution kennt. Die Muslimbruderschaft hat daraus einen Revolutions-Islam gemacht, der jungen Menschen Hoffnung für Veränderungen gibt. Ich empfand meine Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern damals als einen Akt der Emanzipation vom "Mainstream-Islam". Die Muslimbrüder geben jungen Menschen das Gefühl, anerkannter Teil einer Gruppe zu sein. Die Botschaft lautet: "Du bist nicht nur wichtig, Du bist auch Teil eines Plans Gottes." Das ist ungeheuer wichtig für das Selbstwertgefühl. Alles, was man tut, bekommt plötzlich eine sakrale Dimension. 

Hintergrund
Hamed Abdel-Samad wurde 1972 in Ägypten geboren. Er studierte Englisch und Französisch in Kairo und Politik in Augsburg. Er lehrte bis 2009 am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Der Untergang der islamischen Welt: Eine Prognose".

tagesschau.de: Lässt sich das auf junge Menschen in Deutschland übertragen, die den Islamismus attraktiv finden?

Abdel-Samad: Auf jeden Fall. Wir haben zwei Gruppen von jungen Muslimen: "eingeborene" Muslime und Konvertiten. Die Moderne versetzt junge Menschen in die Lage, sich von ihrer Herkunft zu distanzieren - und das kann auch Desorientierung schaffen - egal ob bei Deutschen oder anderen. Der Islamismus bietet klare Antworten, eine vereinfachte Aufteilung der Welt in Gläubige und Ungläubige. Das bietet Orientierung. Die jungen Muslime fühlen sich als Soldaten Gottes, als eine Vorhut der Revolution.

tagesschau.de: Hat der Islamismus damit andere Protestformen verdrängt?

Abdel-Samad: Früher gingen die Leute demonstrieren. Heute ist der Islamismus und seine unversöhnliche Weltanschauung die neue Form des "revolutionär sein". Der Islamismus bietet eine Kraft des Widerstandes und des Protestes.

tagesschau.de: Woher nimmt der Islamismus diese Kraft?

Abdel-Samad: Der Islamismus ist auf dem Vormarsch, weil der Islam als Kultur ausgedient hat. Er hat seinen Zenit überschritten, hat keine Antworten auf die Fragen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Die sichtbaren Symbole des Islams weltweit sind kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche. Der Islamismus lebt von Kampfparolen und Wut. Viele verwechseln das mit dem Vormarsch des Islams. Aber was wir erleben, ist das letzte Aufbäumen eines überkommenen Wertesystems aus dem Mittelalter.

tagesschau.de: Sehen Sie in Kampfparolen ein Zeichen von Stärke oder Schwäche?

Abdel-Samad: Man beharrt auf der eigenen kulturellen Überlegenheit, obwohl diese keine Substanz mehr hat. Das ist eine explosive Mischung. Auf der einen Seite Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem Westen, der überlegen in allen Gebieten des modernen Lebens ist - und andererseits Allmachtsfantasien. Dies führt zu einer explosiven Paranoia. Die islamistische Gewalt ist genau hier zu lokalisieren.

tagesschau.de: Welche strukturellen Überschneidungen sehen Sie mit links- oder rechtsradikalen Ideologien?

Abdel-Samad: Die Abkapselung von der Gesellschaft, die Verschwörungstheorien sowie die Aufteilung der Welt in Gut und Böse. Das findet man in der Rhetorik aller dieser radikalen Gruppen. Auch die Vorstellung, dass man alleine im Besitz ewiger Wahrheiten ist. Dazu kommt die Ablehnung von Relativismus und Ambivalenz.

tagesschau.de: Wie ist Ihnen klar geworden, dass die Muslimbruderschaft doch nicht im Besitz der ewigen Wahrheit ist?

Abdel-Samad: Ich habe erkannt, dass diese Gruppen immer im eigenen Saft schmoren, sie sind isoliert und steigern sich in ihre Weltanschauung hinein. Das fand ich irgendwann gefährlich und kontraproduktiv.

tagesschau.de: Im Rechtsextremismus ist zu beobachten, dass sich einige Kader immer weiter radikalisieren, während viele andere nach einigen Jahren wieder verschwinden. Wie sieht es mit der Fluktuation im Islamismus aus?

Abdel-Samad: Es gibt Individuen, die anfällig sind für radikale Ideologien. Das sind Weltverbesserer oder Sozialromantiker, die auch prophetische Vorstellungen von der Welt haben. Wenn die auf radikale Strukturen treffen, dann kann es zu einer Radikalisierung kommen. Oft wird dieser Prozess unterbrochen, durch einen Mangel an Möglichkeiten. In Europa erleben wir einen Zuwachs an Unzufriedenheit und Orientierungslosigkeit bei jungen Muslimen, daher kann man von Glück sprechen, dass diese sich nicht massenhaft radikalen Gruppen anschließen. Dies liegt auch an fehlender Infrastruktur.

tagesschau.de: Eine eigene Erlebniswelt spielt also eine zentrale Rolle bei der Rekrutierung. Welche Angebote gab es bei den Muslimbrüdern?

Abdel-Samad: Sehr viele. Am Abend zusammen den Koran lesen und beten, das war sehr wichtig. Es gab zudem viele Sportangebote. Das verbindet Menschen, die sonst anonymisiert und isoliert sind. Es gab auch Kampfpraktiken, die sehr mystisch waren. Wir sind einmal mit einer Gruppe Muslimbrüder in die Wüste gelaufen. Jeder hielt eine Orange in der Hand. Es war extrem heiß. Stundenlang warteten wir darauf, diese Orange endlich essen zu dürfen. Dann sagte der Anführer: Schält eure Orange, begrabt die Frucht im Sand und esst die Schale. Aus heutiger Sicht finde ich das komisch. Aber damals war das ein hochgradig spirituelles Erlebnis. Ich war mir sicher: Es gibt einen Plan, wir verändern die Welt - und ich bin ein Teil davon.

tagesschau.de: Sie sprachen nun von Ägypten. Inwieweit wird versucht, solche Angebote auch in Deutschland zu machen?

Abdel-Samad: Die islamistischen Gruppen in Deutschland sind vielleicht extrem konservativ - aber die meisten von ihnen sind nicht militant. Es gibt etablierte Organisationen, die problematisch sind. Aber aus der Mitte dieser Gruppen, wie etwa Milli Görus, kommen selten gewaltbereite Leute. Denn sie leben davon, dass ihre Mitglieder friedlich hier leben, Spenden und Beiträge bezahlen. Aber sie schaffen eine Unzufriedenheit bei ihren Mitgliedern mit der Moderne. Auch diese Organisationen haben eine Rhetorik der Revolution.

Der Zusammenhang zwischen Religion und Terrorismus

Hamed Abdel-Samad war bei der ägyptischen Muslimbruderschaft, heute arbeitet er als Publizist in Deutschland. Im Interview mit tagesschau.de warnt er vor der weltweiten Gefahr durch Anschläge der "Do-it-yourself-Al-Kaida". Und er plädiert für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Phänomen.

tagesschau.de: Wie hängen Religion und Terrorismus zusammen?

Abdel-Samad: Die Ursache für Gewalt und Terror kann man nicht allein auf den Koran zurückführen. Es gibt weltweit politische Unruhen und soziale Probleme. Dazu kommen persönliche Merkmale des Terroristen, die wichtig sind. Dennoch darf man der Religion auch keinen Persilschein ausstellen. Denn erst die Religion ermöglicht es dem Attentäter, einer kalkulierten politischen Tat eine sakrale Dimension zu verleihen. Die Bezeichnung der Ungläubigen im Koran als Vieh macht es für einen Radikalen möglich, seine Opfer zu entmenschlichen. In der öffentlichen Debatte wird die Religion entweder alleine für Anschläge verantwortlich gemacht, oder man sagt, der Islam habe nichts damit zu tun, er sei die Religion des Friedens. Beides ist falsch.

tagesschau.de: Warum?

Abdel-Samad: Wenn die Religion allein ausschlaggebend wäre, hätten wir in Deutschland mehrere Millionen potenzielle Attentäter. Das haben wir nicht. Wenn die Religion nichts damit zu tun hätte, würden sich auch Terroristen aus Mexiko oder Vietnam in die Luft jagen. Das tun sie aber nicht.

tagesschau.de: Die Bundesregierung will Programme gegen Islamismus auflegen, ähnlich denen gegen Rechtsextremismus. Wie können solche Projekte sinnvollerweise aussehen?

Abdel-Samad: Die richtigen Akteure müssen am Werk sein. Wenn man rein deutsche Anlaufstellen für Aussteiger anbietet, wird es schwierig. Da sind die Moscheevereine ein wichtiger Faktor. Sie  haben bislang nicht ihre Aufgabe erfüllt, gegen radikale Tendenzen an ihren Rändern vorzugehen. Auch als Anlaufstelle für Aussteiger fungieren sie bislang nicht. Dafür müssen sie sich vollkommen von der Gewaltrhetorik verabschieden, mehr Vertrauen in Sicherheitskräfte und in die deutsche Gesellschaft aufbauen. Immerhin hat man nun begonnen, Imame hier auszubilden. Es ist ein langer Weg.

tagesschau.de: Kann Integration ein Schutz vor Terrorismus sein?

Abdel-Samad: Man darf die Phänomene nicht vermischen. Terrorismus und Integration sind unterschiedliche Sachen. Mit Ganztagsschulen und Sprachförderung kann man nicht den Terrorismus besiegen. Mohammed Atta sprach perfekt Deutsch, hatte gute Chancen auf eine Karriere und bezahlte seine Rundfunkgebühren. Armut und Mangel an Bildung verursachen keinen Terrorismus, sondern Eskapismus. Das sind Jugendbanden, die im sozialen Elend keine Perspektive finden. Sie lösen sich von ihren ultrakonservativen Familien und werden kriminell.

In Deutschland werden verschiedene Formen der Radikalisierung vermischt und als islamisch bezeichnet: Der Eskapismus, aber auch der archaische Konservatismus, der sich durch "Ehrenmorde" oder Zwangsehen zeigt. Unser Problem ist aber der religiöse Avantgardismus. Die meisten Biografien von Attentätern zeigen: Es sind entweder Konvertiten oder Re-Konvertiten, also Muslime, die ihre Religion wieder entdecken - oder welche, die von außerhalb kommen und päpstlicher sein wollen als der Papst.

tagesschau.de: Wie sieht es denn aus mit den Verbindungen von potenziellen Terroristen zum Terrornetzwerk Al Kaida?

Abdel-Samad: Die zentralistische Al Kaida, die wir aus dem Jahr 2001 kennen, gibt es in dieser Form nicht mehr. Wir haben mittlerweile eine "Do-it-yourself-Al-Kaida". Das ist eine Art Geisteshaltung. Jeder kann im Internet die Anleitung zum Bau einer Bombe herunterladen. Eine Gruppe junger Muslime kann sich zusammenfinden - ohne direkten Kontakt zur Mutterorganisation. Kleingruppen agieren oft auf eigene Faust, daher sind sie auch nicht mehr so präzise. Aber die Gefahr ist da - weltweit.

tagesschau.de: Zurück von der weltweiten Bedrohung zu Ihrer eigenen Geschichte: Welche Lehren haben Sie aus den Erfahrungen in islamistischen Kreisen gezogen?

Abdel-Samad: Ich habe gelernt, dass jeder Mensch durstig ist nach Anerkennung und sozialer Wärme. Wenn dies in der Familie oder in der Gesellschaft fehlt, besteht Gefahr, dass Individuen von Radikalen vereinnahmt werden. Und ich habe gelernt, mich niemals mit vorgefertigten Antworten und Wahrheiten zufrieden zu geben. Außerdem muss man allen Menschen in allererster Linie als Menschen begegnen - und nicht als Christen, Juden, Atheisten oder was auch immer.

Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de