20 Jahre vereintes Deutschland "Die Treuhand war die Zielscheibe für Frust und Zorn"
Als Abwickler, Arbeitsplatzvernichter und rücksichtloser Privatisierer ist die Treuhandanstalt vielen Ost- und Westdeutschen in Erinnerung. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Seibel sieht das im Interview mit tagesschau.de völlig anders. Die Treuhand habe eine politische Schutzfunktion übernommen.
tagesschau.de: War die Treuhandanstalt in Ihren Augen erfolgreich?
Wolfgang Seibel: Politisch war die Treuhand eine erfolgreiche Veranstaltung. Sie war in ökonomischer und fiskalischer Hinsicht ein Desaster, aber das auf Grund von Umständen, die die Treuhandanstalt oder ihre Führung nicht zu verantworten hatten.
tagesschau.de: Worin besteht denn in Ihren Augen der Erfolg, wenn es doch ökonomisch ein Desaster war?
Seibel: Wenn ein Wirtschaftssystem völlig umgekrempelt wird und Millionen von Menschen entlassen werden, ist die Schlüsselfrage, ob der Zusammenhalt der Gesellschaft und die politische Stabilität überhaupt noch gewährleistet sind. Die Treuhandanstalt hat einen maßgeblichen Anteil daran gehabt, dass die zahlreichen Privatisierungen und Liquidierungen in – ich betone das – einigermaßen sozial verträglichem Rahmen abgelaufen sind.
Wolfgang Seibel lehrt an der Universität Konstanz und an der Hertie School of Governance, Berlin, Politik- und Verwaltungswissenschaft. Sein Forschungsschwerpunkt ist u.a. der Verlauf und die Folgen der Deutschen Einheit. 2005 erschien sein Buch „Verwaltete Illusionen. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt und ihre Nachfolger 1990-2000“.
tagesschau.de: Wurde die Treuhandanstalt mit der Absicht gegründet, die politische Stabilität zu gewährleisten?
Seibel: Man muss sich die Situation in der ersten Hälfte des Jahres 1990 vergegenwärtigen, als diese Institution gegründet wurde. Diese Situation war gekennzeichnet von der deutsch-deutschen Währungsunion mit Umrechnungskursen, die politisch diktiert waren.
tagesschau.de: Von wem?
Seibel: Durch die politische Notwendigkeit, der Bevölkerung der DDR die Gewissheit zu geben, dass es tatsächlich eine Wiedervereinigung mit der westdeutschen Bundesrepublik geben würde und dass sie mit wirtschaftlichem Wachstum, sozialer Sicherheit und einem freiheitlich-demokratischen System rechnen durften. Das war ein wesentlicher Beitrag zu einer vorübergehenden Stabilisierung einer bereits tief destabilisierten DDR. Man musste der Bevölkerung der DDR ein Signal der Hoffnung geben und dieses Signal war die Währungsunion zum Umtauschkurs 1:1. Aber genau das führte zum Absturz der Wirtschaft, für den die Treuhandanstalt dann gerade zu stehen hatte.
tagesschau.de: Die Frage, wer das entschied, ist damit noch nicht beantwortet. Waren es die alliierten Mächte, die europäischen Nachbarn, die westdeutsche Regierung, die diesen Weg einleiteten?
Seibel: Nein, die Forderung den Umrechnungskurs auf 1:1 für Löhne und Gehälter und für einen erheblichen Teil der Ersparnisse festzulegen, kam aus der DDR. Das war ein Beschluss der neuen DDR-Regierung unter Lothar de Maizière im Koalitionsvertrag vom 12. April 1990.
tagesschau.de: Beschließen und fordern kann man ja viel. Die Frage bleibt: Wer ließ sich aus welchen Gründen auf diese Forderung ein?
Seibel: Über den Umtauschkurs gab es ja eine intensive Diskussion in Westdeutschland. Die Bundesbank hatte der Bundesregierung unter Helmut Kohl einen Kurs 1:2 empfohlen. Als das durchsickerte, Ende März 1990, gab es einen massiven Proteststurm in der DDR. Die Menschen gingen wieder auf die Straße und es gab wieder Montagsdemonstrationen. Das setzte die DDR-Regierung unter Druck und machte es auch der westdeutschen Regierung unmöglich, einen anderen Umstellungskurs durchzusetzen. Denn das hätte den Stabilitätsgewinn, den man durch die Ankündigung der Währungsunion erreichen wollte, zunichte gemacht. Doch das Tragische war, dass diese Entscheidung gleichbedeutend war mit dem endgültigen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Wirtschaft.
Warum der Vorwurf der "organisierten De-Industrialisierung" nicht zutrifft.
tagesschau.de: Es gibt ja sogar Stimmen wie die des brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck, der jetzt im September 2010 von „organisierter De-Industrialisierung“ in Bezug auf die Wiedervereinigung sprechen. Teilen Sie dieses harte Urteil?
Seibel: Die Frage ist ja, wie man mit den Folgen der Währungsunion umging. Man hat zum Beispiel dafür gesorgt, dass der Erhalt "industrieller Kerne" garantiert wurde, zum Beispiel EKO-Stahl im Bundesland von Ministerpräsident Platzeck, das Chemie-Dreieck in Sachsen-Anhalt und die Werftindustrie in Mecklenburg-Vorpommern. Das waren rein politische Entscheidungen der Bundesregierung und der Treuhand, die bewusst gegen eine De-Industrialisierung der ostdeutschen Wirtschaft getroffen wurden.
tagesschau.de: Doch im Prinzip hat man doch der Marktwirtschaft freien Lauf gelassen und alles daran gesetzt, für das einst volkseigene Vermögen – nahezu zu jedem Preis – neue Eigentümer zu finden. Hätte man nicht mehr genossenschaftliche Elemente zulassen können?
Seibel: Es ging ja gerade um die Bewältigung der wirtschaftlichen Geschichte der DDR, die die Geschichte des Niedergangs einer einstmals blühenden Industrielandschaft namens Mitteldeutschland war. Sicher hätte man in Einzelfällen über Alternativen nachdenken können, aber für 8000 und nach Aufspaltungen mehr als 12.000 Betriebe in Treuhandbesitz jeweils einen eigenes Unternehmenskonzept aufzustellen, das tragfähig gewesen wäre, das war völlig ausgeschlossen. Also musste man selektiv vorgehen und hat die vernünftige Entscheidung getroffen, nicht alles dem Markt zu überlassen und die Schlüsselindustrien in bestimmten Regionen zu retten.
tagesschau.de: Trotzdem haben Millionen Menschen ihre Arbeitsplätze verloren und ganze Regionen lagen wirtschaftlich brach. Gab es Alternativen zum Vorgehen der Treuhand, um flächendeckender die Wirtschaft zu stützen?
Seibel: Sicher im Einzelfall. Aber auf der strategischen Ebene hatte die Treuhand keinen Spielraum, die Folgen der politischen Kernentscheidungen von 1990 rückgängig zu machen. Man hätte mit dem Wissen von fünf oder zehn Jahren später eine Politik betreiben können, die eher von unten nach oben als umgekehrt Entscheidungen getroffen hätte. Bedenken muss man jedoch, dass die ostdeutschen Landesregierungen in dem Zeitraum 1990 bis 1993 nur bedingt handlungsfähig waren. Sie waren häufig froh, dass es eine handlungsfähige Institution gab: die Treuhandanstalt. Die dezentrale Ebene – kommunal und auf Landesebene – wären also noch gar nicht in der Lage gewesen, stärker beteiligt zu werden.
Warum die Ermordung des Treuhand-Chefs Rohwedders die Politik so stark beeinflusste.
tagesschau.de: Und die Gewerkschaften?
Seibel: Es gibt eine historische Wasserscheide, an der sich entschieden hat, ob die Gewerkschaften einen Oppositionskurs gegen die Treuhand und Bundesregierung führen würden oder nicht. Das war tragischerweise die Ermordung des damaligen Treuhandchefs Rohwedder im April 1991. Als deutlich wurde, dass die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen dieses Umbruches so gravierend waren, dass sie auch ein erhebliches Gewaltpotenzial freisetzen konnten, haben führende Gewerkschafter sich entschlossen, den generellen Kurs der Treuhand zu stützen. Es kann sich ja kaum noch jemand daran erinnern, aber es gab damals landfriedensbruchartige Szenen, zum Beispiel in Schwerin, wo aufgebrachte Werftarbeiter im Februar 1991 den Landtag besetzt hatten.
tagesschau.de: Das heißt, die Gewerkschaften zogen mit der Treuhand an einem Strang?
Seibel: Gewerkschaftsvertreter saßen im Verwaltungsrat der Treuhand, genauso wie alle ostdeutschen Ministerpräsidenten. Diese Integration ist eine der politischen Stabilisierungsleistungen der Treuhandanstalt, die Integration der organisierten Arbeitnehmerschaft.
tagesschau.de: Aber auf Kosten der DDR-Arbeitnehmer ...
Seibel: Es ist völlig unbestritten, dass es in einzelnen Branchen in Westdeutschland das Interesse gab, im Osten keine Billiglohnkonkurrenz entstehen zu lassen. Und sicher gab es generell das Interesse der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, eine Konkurrenz zwischen Ost und West zu vermeiden. Aber die Treuhand wird man nicht dafür verantwortlich machen können, dass es in Ostdeutschland partielle De-Industrialisierung und massiven Arbeitsplatzabbau gegeben hat.
Massiver Druck aus dem Ausland auf die Kohl-Regierung
tagesschau.de: Das klingt nach einer fast lupenreinen Erfolgsbilanz. Wie passt das zu dem Bild der Treuhand als rücksichtlosem Abwickler, der noch draufgezahlt hat, um seine Aufgabe – die Privatisierung – zu erfüllen? Ist das ein von persönlichen schlechten Erfahrungen getrügtes Bild?
Seibel: In gewisser Weise ja. Es gibt so etwas wie dominierende Erzählungen, die sich festfressen und manchmal zutreffen können, manchmal aber auch irreführende Mythen begründen. Wir haben eine unglückliche Erzähltradition in Bezug auf den wirtschaftlichen Umwandlungsprozess der DDR, nämlich: Da kam der Westen, der hat alles platt gemacht, dafür brauchte er eine Institution und das war die Treuhandanstalt. Das ist mehr oder weniger das Bild im kollektiven Gedächtnis. Dabei wird aber die geopolitische Situation und die Rolle Deutschlands darin vergessen.
tagesschau.de: Der Zusammenbruch der Sowjetunion?
Seibel: Das auch, aber vor allem waren die Deutschen in der Wahrnehmung ihrer europäischen Nachbarn und transatlantischen Partner 1989 drauf und dran, zum dritten Mal in einem Jahrhundert große Konflikte zu erzeugen. Das sollte unter allen Umständen verhindert werden. Aus den heute zugänglichen Dokumenten wissen wir, dass Thatcher, Mitterrand und auch Bush massiv Druck auf Kohl und die Bundesregierung ausgeübt haben, die ostdeutsche Bevölkerung zu beruhigen, auch durch die Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage. Keinesfalls durfte die Situation entstehen, dass es zu Unruhen kam und die Gewalt sich gegen sowjetische Kasernen in Ostdeutschland wendete. Damit wäre die Position Gorbatschows destabilisiert und die der Hardliner unter dessen Gegnern in Moskau gestärkt worden. Es war ja ein Umbruch an der Schnittstelle zweier großer Machtblöcke, der auf friedliche Weise bewerkstelligt werden musste.
tagesschau.de: Sie würden also das negative Bild der wirtschaftlichen Transformation der DDR korrigieren?
Seibel: Ich würde es anders einordnen. Deutschland hatte zwei Mal im 20. Jahrhundert einen Krieg vom Zaun gebrochen und anschließend war das Land in zwei Teile geteilt. Da standen sich zwei bis an die Zähne bewaffnete Militärblöcke mitten in Deutschland gegenüber und einer von denen begann nun 1989 zu zerfallen. So etwas ist in der Geschichte selten friedlich abgegangen.
Was die Menschen friedlich machte, war die Hoffnung auf Freiheit und Wohlstand. Dafür stand erst einmal die deutsch-deutsche Währungsunion. Und die war der Anfang vom endgültigen Ende der DDR-Wirtschaft, die durch 40 Jahre kommunistischer Planwirtschaft zugrundegerichtet worden war. An diesen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang muss man ja hin und wieder erinnern. Also sehen wir es doch so: Deutschland hat seine „zweite Chance“ genutzt für das friedliche Wieder-Zusammenwachsen. Und daran hatte die Treuhandanstalt ihren widersprüchlichen und konfliktbeladenen Anteil.
Das Interview führte Nea Matzen, tagesschau.de