Interview

Interview mit ARD-Rechtsexperte Möller "Karlsruhe wird nur den Rahmen abstecken"

Stand: 20.10.2009 17:56 Uhr

Das Verfassungsgericht verhandelt über die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder und Erwachsene. ARD-Rechtsexperte Möller zeigte sich zum Auftakt von den Richtern beeindruckt: "So intensive Nachfragen habe ich selten erlebt", sagt er im tagesschau.de-Interview. Konkrete Zahlenvorgaben erwartet er nicht.

tagesschau.de: Wie war der Verhandlungstag?

Karl-Dieter Möller: Zunächst ging es um die Regelsätze der Alleinerziehenden und ihrer Partner. Aber da kamen schon die Grundprobleme zu Sprache, die auch für die Regelsätze der Kinder von erheblicher Bedeutung sind. Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier war da sehr deutlich: Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes, in dem es um die Würde des Menschen geht, in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nimmt den Staat in die Pflicht. Er muss die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein schaffen. Die Frage ist nun, ob die vom Gesetzgeber bisher festgelegten Hartz-IV-Regelsätze dafür tatsächlich ausreichen.

tagesschau.de: Und welchen Eindruck haben die Richter auf Sie gemacht?

Möller: Es hat selten eine Verhandlung gegeben, in der die komplette Richterbank so intensiv nachgefragt hat und so aktiv beteiligt war. Mitunter war es ein regelrechtes Frage- und Antwortspiel. Die Richter wollten ganz genau wissen: Wie sind die bisherigen Regelsätze statistisch untermauert? Wie errechnet sich das? Gibt es möglicherweise andere Wege, diese Regelsätze für Kinder zu bemessen?

tagesschau.de: Und was hat die Bundesregierung geantwortet?

Möller: Die, beziehungsweise das Statistische Bundesamt, hat natürlich dagegengehalten und gesagt, dass manche Ausgaben, wie etwa die für Bildung, die in den Hartz-IV-Regelsätzen für Kinder nicht berücksichtigt sind, anderweitig verrechnet würden; beispielsweise durch das BAföG.

tagesschau.de: Haben sich die Richter mit diesen Antworten zufrieden gegeben?    

Möller: Sie haben immer weiter nachgebohrt und gefragt, wie diese Statistik zustande kommt und ob es nicht andere Möglichkeiten gibt, das alles besser und genauer zu erheben. Beispielsweise denkt bisher niemand daran, dass Kleinkinder Windeln brauchen - und Windeln sind teuer. Oder wieso heißt es bisher bei der Kostenerstattung für Kleidung, dass "Maßanzüge und Pelze" abgezogen werden? Es ist ja nicht unbedingt davon auszugehen, dass ausgerechnet in dieser Gruppe Pelze und Maßanzüge getragen werden.

All diese konkreten Fragen haben die Richter gestellt und von den Sozialverbänden, aber auch der Bundesregierung, die sich natürlich verteidigt hat, durchaus nachvollziehbare Antworten bekommen. Das Statistische Bundesamt hat sehr genau erklärt, wie diese Statistik zustande kommt und wieso einzelne Bereiche rausfallen. Also das wird ein schwieriges Brot für die Verfassungsrichter, möglicherweise einen neuen Weg zu finden.

tagesschau.de: Zeigt die Vielzahl der Nachfragen nicht den Knackpunkt der ganzen Regelsätze? Dass alle über einen Kamm geschert werden, aber individuelle Lösungen fehlen? 

Möller: Ich glaube tatsächlich, dass die Verfassungsrichter, jedenfalls aus verfassungsrechtlicher Sicht, "Bauchschmerzen" haben, wie diese Statistik - die manches auch nicht berücksichtigt - zu Stande kommt. Da gibt es, so ist zumindest mein Eindruck, doch sehr starke Zweifel.  

tagesschau.de: Sie gehen also davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht die bisherigen Regelsätze kippt?

Möller: Alles andere wäre schon eine Überraschung. Allerdings glaube ich nicht, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil die konkrete Höhe der Regelsätze festschreibt. Das bleibt schon noch Aufgabe des Gesetzgebers, also der Bundesregierung.

tagesschau.de: Das Bundesverfassungsgericht wird Ihrer Einschätzung nach also eher die Rahmenbedingungen abstecken und wenig Konkretes festschreiben.

Möller: Genau. So deute ich den Verhandlungsverlauf.  

tagesschau.de: Schützt sich das Bundesverfassungsgericht mit einer solchen Haltung auch vor dem Vorwurf in Zeiten knapper Kassen mit seiner Entscheidung den Bundeshaushalt noch zusätzlich zu belasten? Eine Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze kostet schließlich viel Geld.

Möller: Das ist sicher etwas, was das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren immer im Hinterkopf gehabt hat. Darum glaube ich auch, dass die Richter nur den Rahmen abstecken. Ob das in diesem Rahmen dann zu Steigerung der Regelsätze kommt, ist deshalb noch überhaupt nicht ausgemacht.     

tagesschau.de: Am Ende des Verfahrens steht also nicht zwangsläufig eine Erhöhung der Regelsätze?  

Möller: Zwangsläufig auf keinen Fall. Entscheidend ist nur, dass es der Gesetzgeber für alle gleich macht. Insofern könnte der Gesetzgeber auch in diesem Fall mit den Vorgaben des Gerichts bei den Regelsätzen runtergehen oder er sagt nach den gesetzlichen Vorgaben, wenn wir genauere statistische Erkenntnisse haben, müssen wir die Regelsätze erhöhen. Das Verfassungsgericht wird in die konkrete Ausgestaltung des Gesetzes bestimmt nicht eingreifen.

Die Fragen stellte Niels Nagel, tagesschau.de