Streit um Stasi-Unterlagenbehörde "Birthler-Behörde wird ihrem Auftrag nicht gerecht"
Der Fund der Stasi-Akte des Ohnesorg-Todesschützen Kurras hat auch die Arbeit der Birthler-Behörde in den Blickpunkt gerückt. Diese sei ihrer Aufgabe nicht gewachsen, kritisiert Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat. Er fordert im Interview mit tagesschau.de eine Einbindung ins Bundesarchiv.
tagesschau.de: Marianne Birthler hat heute den Jahresbericht ihrer Stasiunterlagen-Behörde vorgelegt. Der Informationsdrang der Bürger sei ungebrochen groß, sagt sie. Sie aber fordern, dass man die Behörde schließt. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Klaus Schroeder: Die Birthler-Behörde hat ihre Aufgabe, die ostdeutsche Bevölkerung darüber zu informieren, was die Stasi über sie gesammelt hat, mittlerweile erfüllt. Die Aufarbeitung ist damit natürlich nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: Jetzt sollte das Bundesarchiv übernehmen. Denn es geht nun darum, die Erschließung und Archivierung der Unterlagen professionell voranzutreiben. Das hat die Birthler-Behörde bislang nicht vermocht.
tagesschau.de: Arbeitet die Birthler-Behörde etwa unprofessionell?
Professor Klaus Schroeder, 1949 geb. in Lübeck-Travemünde, ist promovierter Soziologe und habilitierter Politikwissenschaftler. Schröder leitet den 1992 gegründeten Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin sowie die Arbeitsstelle Politik und Technik des Otto-Suhr-Instituts. Ende 2006 erschien von ihm das Buch "Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung" und im letzten Jahr veröffentlichte er gemeinsam mit Monika Deutz-Schroeder die Studie "Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern – ein Ost-West-Vergleich".
Schroeder: Im Bereich der Erschließung der Akten gibt es große Defizite, weil viele Leute, die dort arbeiten, keine Spezialisten sind, sondern aus dem ehemaligen DDR-Staatsapparat übernommen wurden. Die notwendige personelle Potenz fehlt in der Behörde. Deshalb sollten die Akten vom Bundesarchiv übernommen werden. Nur wenn es dadurch zu einer Einschränkung im Zugang käme, wäre ich dagegen. Notfalls brauchen wir ein Überleitungsgesetz. Ich denke, dass der Bundestag in der kommenden Legislaturperiode einen entsprechenden Entschluss fassen wird.
"Die Birthler-Behörde hat uns nicht informiert"
tagesschau.de: Frau Birthler weist ihre Kritik als unbegründet zurück.
Schroeder: Der jüngste Aktenfund zum Tod von Benno Ohnesorg ist doch das beste Beispiel. Wir haben derzeit ein Forschungsprojekt zur Geschichte der Studentenbewegung in Berlin laufen. Wir können aber nicht selbst recherchieren, welche Akten dazu in der Birthler-Behörde vorhanden sind. Als dort vor einigen Monaten die Unterlagen zu Kurras gefunden wurden, hätte man uns doch sofort informieren müssen. Stattdessen sind die Akten dort wahrscheinlich monatelang im Haus hin und her gewandert. Als außenstehender Wissenschaftler oder Journalist wissen sie überhaupt nicht, was in der Behörde eigentlich an Unterlagen vorhanden ist, was wirklich gesucht wurde, und wie und wo gesucht wurde.
tagesschau.de: Frau Birthler verweist darauf, dass die Unterlagen nur auf Anfrage herausgegeben werden. Hätte also jemand nach der Akte Kurras gefragt, hätte er sie auch einsehen können. Es habe schlicht niemand danach gefragt.
Schroeder: Das ist doch kompletter Quatsch, ein völlig schwachsinniges Argument. Wenn man alles schon vorher wissen soll, was man gar nicht wissen kann, dann braucht man ja gar nicht forschen. Man will doch herausbekommen, wer für die Stasi gearbeitet hat, das weiß man doch nicht schon vorher. Man fragt doch nicht nur nach einzelnen Dingen, sondern man gibt das Thema an und grenzt es dann ein.
"Wissenschaftler müssen selber recherchieren können"
tagesschau.de: Wäre es für Historiker bei der Recherche im Bundesarchiv einfacher gewesen als in der Birthler-Behörde?
Schroeder: Wissenschaftler, Publizisten und Journalisten können im Bundesarchiv selber suchen und sind nicht auf irgendwelche Leute in der Birthler-Behörde angewiesen. Wenn wir nach diesen Akten im Bundesarchiv hätten recherchieren können, wären wir eventuell über relevante Suchbegriffe wie "Ohnesorg" oder "2. Juni" auch auf die entsprechenden Unterlagen gestoßen.
tagesschau.de: Inwieweit geht der Vorwurf an die Behörde und inwiefern trifft er nicht auch die Politik? Im Stasiunterlagengesetz ist doch definiert, wie die Behörde arbeiten soll.
Schroeder: Im Stasiunterlagengesetz steht, dass die Akten erschlossen, archiviert, verwaltet und verwendet werden sollen. In der Birthler-Behörde wird aber viel mehr Gewicht auf politische Bildung gelegt, und die Erschließung der Akten wird aus meiner Sicht ziemlich vernachlässigt – vor allem im Bereich deutsch-deutscher Geschichte.
tagesschau.de: Marianne Birthler weist den Vorwurf, man beschäftige sich zu wenig mit der Westarbeit der Stasi, ganz entschieden zurück. Gerade mit diesem Komplex habe man sich "intensivst" auseinandergesetzt.
Schroeder: Ich bleibe dabei: Man hat auf die Westaktivitäten der Stasi viel zu wenig Gewicht gelegt – und vor allem: viel zu spät. Erst jetzt, wo alles verjährt ist, läuft das langsam an. Dadurch ist bei vielen Ostdeutschen ein Widerwille und Argwohn gegen die Behörde entstanden. Wenn die Behörde die Einflussnahme der Stasi auf westdeutsche Institutionen und Kollaborateure viel schneller und intensiver dingfest gemacht hätte, wäre diese inakzeptable Ost/West-Schieflage überhaupt nicht erst entstanden.
"Die Stasi war im Westen weiter verbreitet als vermutet"
tagesschau.de: Mit anderen Worten: Sie erwarten in Zukunft noch die eine oder andere Enthüllung, was Stasi-Aktivitäten im Westen angeht?
Schroeder: Ja, aber jede Menge! Die Staatsicherheit hat doch nahezu in jeder Institution ihre Leute gehabt, ob das jetzt Behörden, der Bundestag oder Ministerien waren. Die Stasi war wohl auch im Westen viel weiter verbreitet, als wir es heute noch annehmen. Das muss alles noch akribisch erforscht werden.
tagesschau.de: Inwieweit wird der Fund Kurras zu einer Neubewertung der jüngeren Zeitgeschichte und der 68er-Bewegung führen?
Schroeder: Die Studentenbewegung hätte es auch so gegeben, sie hätte sich auch radikalisiert – der Anlass wäre aber ein anderer gewesen. Denn die Gewaltbereitschaft vieler Studenten war schon vor dem Tod von Benno Ohnesorg da. Aber hätte man damals beweiskräftig gewusst, dass Kurras ein Stasi-Spitzel war, wäre die Geschichte schon anders verlaufen.
Die DDR wäre nicht so glimpflich davongekommen, wie sie damals von vielen linken Studenten gesehen wurde. Man hätte seit diesem Zeitpunkt die DDR viel kritischer gesehen. Das hätte auch zu einem anderen Blick auf die Bundesrepublik geführt. Denn die wurde in linken Kreisen im Gegensatz zur DDR oft als faschistoid bezeichnet.
Das Interview führte Ulrich Bentele, tagesschau.de