Interview zur Missbrauchs-Hotline "Die Kirche demonstriert neue Offenheit"
Die katholische Kirche sucht den Dialog zu Missbrauchsopfern - und das per Telefon. Jetzt wurde eine eigens dafür eingerichtete Beratungshotline vorgestellt. Dies sei zwar begrüßenswert, "aber nicht mehr als ein erster Schritt", sagt der Kinder- und Jugendpsychologe Fegert im tagesschau.de-Interview.
tagesschau.de: Die Deutsche Bischofskonferenz startet jetzt eine Hotline für Missbrauchsopfer in katholischen Einrichtungen. Kommt die nicht ein wenig spät?
Jörg Fegert: Immerhin kommt sie. Schließlich erkennt die katholische Kirche damit die zahlreichen Missbrauchsfälle in ihren Einrichtungen an und kann so für mehr Transparenz sorgen. Wenn Sie so wollen, ist die Hotline der Anfang einer neuen Form des Beschwerdemanagements und der Qualitätssicherung.
tagesschau.de: Ist es von den Opfern nicht etwas viel verlangt, sich gerade an die Organisation zu wenden, in deren Einrichtungen sie missbraucht wurden?
Fegert: Diese Bedenken sind absolut berechtigt. Aber wie so oft führen auch bei dieser Frage mehrere Wege nach Rom. Es gibt bestimmt Menschen, für die es eine riesige Überwindung wäre, sich ausgerechnet bei dieser Hotline zu melden. Andere hingegen wollen ihre Missbrauchserfahrungen ganz bewusst der katholischen Kirche mitteilen, um dort Veränderungen in Gang zu setzen.
Professor Jörg M. Fegert ist seit 2001 Ärztlicher Direktor der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie der Universität Ulm. Zum Thema "sexueller Missbrauch bei Kindern und Jugendlichen" hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht.
"Klinische Erfahrungen mit Hotlines sind eindeutig"
tagesschau.de: Sie glauben also an den Erfolg einer solchen Hotline?
Fegert: Da sind unsere Erfahrungen im klinischen Bereich eindeutig. Wenn wir Missbrauchsopfern das Angebot unterbreiten durch Faltblätter oder auch per Telefon mit Einrichtungen in Kontakt zu treten, die außerhalb der Klinik stehen, dann wird dieses Angebot auch genutzt. Wenn die Kirche jetzt Erlaubnis gibt, über Missbrauchsfälle in ihren Einrichtungen zu reden, indem sie eine Hotline einrichtet, wird diese Geste sicher von vielen verstanden und auch wahrgenommen werden. Das gilt wie gesagt bestimmt nicht für alle. Prinzipiell ist es aber richtig, dass die Kirche mit dieser Hotline Gesprächsbereitschaft zeigt. Das war lange nicht so.
tagesschau.de: Was meinen Sie damit?
Fegert: Bereits vor 15 Jahren habe ich mich im Rahmen der Novellierung des Kinder- und Jugendgesetzes sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Die damaligen Diskussionen gingen jedoch relativ spurlos an der Kirche in Deutschland vorbei und wurden sogar noch unter falschen Vorzeichen geführt. Damals ging es nur um den "Missbrauch mit dem Missbrauch", also der vermeintlichen Instrumentalisierung von Missbrauchs-Vorwürfen.
Das ist jetzt zum Glück anders. Die Kirche demonstriert eine neue Offenheit und achtet nicht mehr nur auf das eigene Ansehen. Und nicht nur das: die ganze öffentliche Diskussion hat sich verändert. Prominente bekennen auf einmal, selbst missbraucht worden zu sein und helfen so, dieses Thema zu enttabuisieren. Das ist für die Menschen, die bisher nicht den Mut hatten, über ihre Erfahrungen zu reden, unendlich wichtig.
"Kann daran nichts Empörendes finden"
tagesschau.de: Stichwort Ansehen der Kirche. Könnte es sich bei der Telefonhotline der katholischen Kirche vielleicht doch mehr um eine Image-Aktion, denn um ein wirkliches Hilfsangebot handeln?
Fegert: Selbst wenn dieser Gedanke dahinter stehen würde: Entscheidend ist doch, was rauskommt: Die Kirche geht auf die Opfer zu. Das ist aus psychotherapeutischer Sicht das Wichtige - und daran kann ich nichts Empörendes finden. Dass das jetzt alles von Seiten der Kirche nicht euphorisch und immer nur scheibchenweise geschieht, sollte uns nicht dazu verleiten, diese richtigen Schritte gering zu achten. Für die Betroffenen hat es eine große Bedeutung, dass sich die Kirche bewegt.
tagesschau.de: Ist eine Telefonhotline überhaupt ein probates Mittel, um über sexuellen Missbrauch zu sprechen?
Fegert: Sie ist sicher das richtige Mittel, um einen Erstkontakt herzustellen. Zumal das Thema ja oft sehr schambesetzt ist und sich die Opfer am Telefon auch anonym beraten lassen können. Ich plädiere jedoch dafür, künftig auch im Internet Angebote zu machen. Aus der Arbeit mit traumatisierten Personen aus den Niederlanden, aus Deutschland, aber auch aus Kriegsgebieten wissen wir, dass man auch mittels einer Ferntherapie recht gute Erfolge erzielen kann. Etwa indem man die Patienten zum therapeutischen Schreiben anleitet und so für eine Symptom-Linderung sorgen kann. Fachlich kann man über eine Telefonhotline also noch weit hinaus gehen und denjenigen, die noch heute unter Missbrauchserfahrungen leiden, konkrete Hilfsangebote machen. Die sollten dann allerdings nicht mehr direkt von der Kirche kommen.
Das Interview führte Niels Nagel, tagesschau.de
Telefonnummer: 0800-1201000
Mit der Hotline reagiert die katholische Kirche auf immer wieder neu auftauchende Missbrauchsfälle. Die Telefonberatung ist dienstags, mittwochs und donnerstags von 13.00 bis 20.30 Uhr besetzt. Sie soll "ein Türöffner" für mögliche weitere Schritte sein, sagte der Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Stephan Ackermann.