Interview

Interview zu Folgen der Rezession "Arbeitslosigkeit erzeugt Resignation statt Wut"

Stand: 30.04.2009 17:07 Uhr

Wer in Deutschland arbeitslos wird, sucht die Schuld meist bei sich. Es gebe auch vor dem 1. Mai keine Anzeichen für wütende Massenproteste, sagt der Soziologe Diewald im Interview mit tagesschau.de. Doch die Krise schüre das Gefühl einer ungerechten Gesellschaft.

Wer in Deutschland arbeitslos wird, sucht die Schuld meist bei sich. Es gebe auch vor dem 1. Mai keine Anzeichen für wütende Massenproteste, sagt der Soziologe Diewald im Interview mit tagesschau.de. Doch die Krise schüre das Gefühl einer ungerechten Gesellschaft.

tagesschau.de: Im April lag die Arbeitslosenzahl bei fast 3,6 Millionen, bis Ende 2010 könnten es laut Schätzungen bis zu fünf Millionen sein. Leben wir in einer Gesellschaft des sozialen Abstiegs?

Martin Diewald: Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Gefahr des sozialen Abstiegs etwas zugenommen hat – weniger auf der Ebene der beruflichen Position als auf der Ebene der Einkommen. Das ist eine Veränderung im Vergleich zu den langen goldenen Jahren eines kollektiven Aufstiegs.

Zur Person

Martin Diewald ist seit 2004 Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen soziale Ungleichheiten, Erwerbstätigkeit und Arbeitsmarkt sowie soziale Netzwerke.

tagesschau.de: Ist Arbeitslosigkeit der Schlüssel zu diesem Problem oder betrifft es auch jene, die weiter Arbeit haben?

Diewald: Dass die Arbeitslosigkeit wieder ansteigt, ist sehr bedauerlich. Aber fünf Millionen hatten wir schon einmal. Das ist nichts dramatisch Neues. Der zweite Punkt ist aber, dass sich auch bei denjenigen, die Arbeit haben, die Einkommensungleichheit stark spreizt - im Vergleich zu früheren Jahren, nicht unbedingt im Vergleich zu anderen Gesellschaften wie den USA. Diese Spreizung ist ein neues Phänomen für Deutschland, das erst nach 2000 aufgetreten ist.

tagesschau.de: Wie reagieren die Menschen auf Arbeitslosigkeit? Mit Wut oder mit Resignation?

Diewald: In Deutschland eher mit Resignation. Ausbrüche von Wut haben wir bis jetzt nicht registrieren können. Ich kenne keine Untersuchung, die so etwas oder gar soziale Unruhen in Form von Aufständen auf den Straßen als wahrscheinlich betrachten würde. Arbeitslosigkeit wird eher als individuelles Versagen gesehen und nicht als gesellschaftliches.

"Warnung vor sozialen Unruhen ist fahrlässig"

tagesschau.de: DGB-Chef Michael Sommer warnt dennoch vor sozialen Unruhen und die Bundespräsidentschaftskandidatin Gesine Schwan befürchtet eine explosive Stimmung, falls sich die Lage nicht bessert. Wie realistisch sind solche Warnungen?

Diewald: Ich glaube, dass Frau Schwan nicht das Gleiche gesagt hat wie Herr Sommer. Ich halte die Warnung von Herrn Sommer vor sozialen Unruhen für fahrlässig. Es gibt nichts, was diese Befürchtung rechtfertigen würde. Was eher von Frau Schwan angesprochen wurde, halte ich für ausgesprochen realistisch: Das Vertrauen sinkt, dass es auf dem Arbeitsmarkt mit rechten Dingen zugeht, dass sich Leistung und Bildung lohnen. Auch das ist bereits fatal, ohne dass man gleich von sozialen Unruhen sprechen muss. Das Empfinden, in einer gerechten Gesellschaft zu leben, ist offensichtlich am Sinken.

tagesschau.de: Welche Faktoren sind entscheidend für das Gefühl sozialer Gerechtigkeit?

Diewald: Es ist immer eine subjektive Wahrnehmung. Man vergleicht sich mit anderen und fragt sich, ob man gut oder schlecht dasteht, ob man die Unterschiede als gerechtfertigt empfindet oder nicht. Objektive Maßstäbe dafür sind kaum allgemeingültig zu definieren. Deshalb unterscheiden sich die Gesellschaften erheblich in ihrer Gerechtigkeitswahrnehmung. In Deutschland werden die Einkommensunterschiede in den letzten Jahren zunehmend als ungerecht wahrgenommen.

tagesschau.de: Wie wirkt sich der Eindruck vieler aus, dass der Staat den Banken mit Milliarden hilft und bei den meisten Bürgern nur wenig ankommt?

Diewald: Das ist verheerend. Weil diejenigen, die ihre sehr hohen Einkommen immer damit gerechtfertigt haben, dass sie auf außerordentlichen Leistungen beziehungsweise Erfolgen beruhen, diese weiterhin bekommen, obwohl sie den entsprechenden Erfolg nachweislich nicht erbracht haben. Das ist selten so offensichtlich und geht an jeder Gerechtigkeitsnorm vorbei. Das hat eine enorme öffentliche Wirkung, auch wenn dies für die zunehmende Ungleichheit quantitativ insgesamt kaum ins Gewicht fällt.

"Deutsche protestieren weniger auf der Straße"

tagesschau.de: In Ländern wie Frankreich gibt es bereits Massenproteste oder das Phänomen das Bossnappings. Ist das auch in Deutschland vorstellbar?

Diewald: Ich halte das für sehr unwahrscheinlich. Es war schon immer so, dass die Deutschen weniger auf die Straßen gegangen sind als die Bürger manch anderer Länder. Frankreich hat eine ganz andere Kultur von Straßenprotesten. In Deutschland ist der Protest sehr viel stärker institutionalisiert, beispielsweise in den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern mit den starken Gewerkschaften.

tagesschau.de: Am 1. Mai gibt es jedoch auch in Deutschland wieder zahlreiche Kundgebungen. Wem folgen die Menschen in der Krise?

Diewald: Wer profitiert, ist offensichtlich die FDP. Sie gibt ein Versprechen ab, dass durch das reine Wirken von Marktkräften die Krise eher zu meistern ist als durch den Sozialdemokratismus sowohl der SPD als auch großer Teile der CDU. "Die Linke" profitiert dagegen nicht in hohem Maße, obwohl sie ideologisch betrachtet der große Gewinner sein müsste - aber sie bietet keine Lösungen an, die als solche wahrgenommen werden.

Das Interview führte David Rose, tagesschau.de