Interview

Rabbiner zu wachsendem Antisemitismus "Es gibt No-Go-Areas für Juden"

Stand: 09.11.2013 04:35 Uhr

Vor genau 75 Jahren brannten in Deutschland Synagogen. Antisemitismus gibt es weiter, und er nimmt laut Studien zu. tagesschau.de hat mit dem Berliner Rabbiner Daniel Alter über seine Erfahrungen gesprochen. Er musste 2012 selbst erleben, wie aggressiv Anfeindungen werden können.

tagesschau.de: Wie schwierig ist jüdisches Leben in Deutschland 75 Jahre nach der Reichspogromnacht?

Daniel Alter: Da hilft ein Blick auf die trockenen Zahlen: Der jüngste Antisemitismusbericht der Bundesregierung belegt, dass 20 Prozent der Deutschen latent antisemitische Vorurteile haben. Hinzu kommen fünf bis zehn Prozent, die offen antisemitisch sind. Wir reden also von jedem dritten bis vierten Deutschen. Nun sitzt man im Restaurant oder im Kino und zählt die Menschen um sich herum ab - eins, zwei, drei - und der vierte hat etwas gegen mich. Daran wird vielleicht deutlich, wie belastend, zerstörerisch und schmerzhaft solche Zahlen sein können. Das erschwert freies und unbefangenes Leben deutlich.

Der Antisemitismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, es sind nicht mehr nur die rechts- oder linksextremen Ränder. Außerdem haben wir es mit einem immer wieder hochkochenden Israel-bezogenen Antisemitismus zu tun, in dem der Nahostkonflikt als Rechtfertigung für antisemitische Aussage herangezogen wird.

Und es gibt einen starken Antisemitismus in der Community mit türkischem, arabischem, islamischem Migrationshintergrund. Es gibt Stadtviertel in Deutschland, die für Juden zu No-Go-Areas geworden sind. Da muss man mindestens mit Pöbeleien oder verbalen Übergriffen rechnen. In manchen Regionen geschieht das auch mit rechtsradikalem Hintergrund.

Zur Person
Rabbiner Daniel Alter ist der Beauftragte für Interreligiösen Dialog und gegen Antisemitismus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Im vergangenen Jahr wurde er selbst Opfer eines antisemitischen Übergriffs auf offener Straße. Im Berliner Stadtteil Friedenau wurde er mutmaßlich von arabischstämmigen Jugendlichen vor den Augen seiner kleinen Tochter verprügelt. Die Täter wurden nicht gefasst.

"Die Anfeindungen sind offener und aggressiver geworden"

tagesschau.de: In einer am Freitag veröffentlichten Umfrage sehen die meisten der befragten Juden eine Zunahme des Antisemitismus in den letzten fünf Jahren. Nehmen Sie das auch so wahr?

Alter: Ja. Vor allem stellen wir fest, dass die Anfeindungen offener und aggressiver geworden sind. Jüdische Institutionen beispielsweise bekommen schon immer pöbelnde, beleidigende Zuschriften antisemitischer Art. Während die früher oft anonym versendet wurden, bekommen wir sie heute mit Klarnamen und kompletter Adresse. Und das schlimme ist: So etwas kommt auch von gebildeten Menschen, Akademikern und sogar von Universitätsdozenten.

Dass es noch nicht zu gravierenden gewalttätigen Übergriffen auf jüdische Einrichtungen gekommen ist, führe ich vor allem darauf zurück, dass seit den 1970er-Jahren alle jüdischen Einrichtungen unter starken Sicherheitsvorkehrungen stehen. Meine Kinder wachsen zwischen Panzerglas, bewaffneten Sicherheitsleuten und Metalldetektoren auf. Das ist ebenfalls belastend und immer präsent, wenn meine Kinder in die Schule gehen oder ich zum Beten in die Synagoge. Aber es wäre noch viel belastender, die Sicherheitsvorkehrungen nicht zu haben.

"Walser und Grass haben Antisemitismus befeuert"

tagesschau.de: Haben Sie eine Erklärung für die Zunahme von Antisemitismus?

Alter: Ich habe den Eindruck, dass sich - befeuert von Martin Walsers unseliger Rede in der Paulskirche und dem Gedicht von Günter Grass - so eine Art 'Das-wird-man-wohl-endlich-mal-sagen-dürfen-Mentalität' breit gemacht hat. Was die beiden getan haben, war letzten Endes, Wasser auf die Mühlen des Antisemitismus zu geben und damit ein Erstarken zu befördern.

tagesschau.de: Wo begegnet Ihnen Antisemitismus besonders häufig?

Alter: Er ist vor allem in sozialen Netzwerken sehr weit verbreitet, gerade auch in den Kommentaren von Online-Medien. Das war gerade in der Beschneidungsdebatte spürbar. Zunächst mal ist ja die Frage legitim, ob rituelle Beschneidung in Deutschland erlaubt ist. Allerdings ist diese Debatte an den Rändern mit unglaublicher Polemik geführt worden. Zum Beispiel hat eine Grünen-Politikerin die Beschneidung wörtlich mit der Verbrennung von Witwen in Indien gleichgesetzt. Das ist unsäglich.

Es gibt auch einige Medienvertreter, die eine sehr einseitige Kritik an Israel üben. Deren Statements verharmlosen die beiden islamfaschistischen Terrororganisationen Hisbollah und Hamas. Dabei haben die zum Ziel, nicht nur den Staat Israel physisch zu vernichten, sondern das Judentum weltweit zu bekämpfen. Wer das verharmlost, mag sich selbst vielleicht nicht für antisemitisch halten, aber er leistet dem damit Vorschub.

"Mein Boxring ist der Dialog"

tagesschau.de: Laut der oben erwähnten Umfrage fürchten ein Drittel der befragten Juden, einmal tätlich angegriffen zu werden. Sie mussten das 2012 selbst erleben. Wie hat sich Ihr Leben dadurch verändert?

Alter: Ich trage schon seit einigen Jahren meine Kippa nicht mehr offen. Darüber hinaus hat sich mein Leben nicht weiter verändert. Ich weigere mich, solchen Menschen noch mehr Macht über mein Leben einzuräumen.

Mir war aber andererseits schnell bewusst, dass ich gegen dieses Phänomen, das mir da begegnet ist, ankämpfen will. Mir ist aber ebenso bewusst, dass ich mit den Typen, die mich angegriffen haben, nicht in den Boxring steigen kann. Deshalb versuche ich, gerade junge Menschen, die solche Ressentiments haben, in meinen Boxring zu holen: Und der heißt Dialog, Aufklärung, Kommunikation. Und ich habe mich entschieden, mich nicht zurückzuziehen, sondern mit meinem Judentum gerade vermehrt an die Öffentlichkeit zu gehen.

tagesschau.de: Seit einigen Jahren ist in Deutschland ein Rückgang antisemitischer Straftaten festzustellen. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

Alter: Ich weiß aus meinem Umfeld, dass kleinere Delikte wie Pöbeleien, Bedrohungen, Schmierereien und Sachbeschädigung oft nicht mehr zur Anzeige gebracht werden. Es ist einfach frustrierend, viel Zeit auf einem Polizeirevier zu verbringen für eine Anzeige gegen Unbekannt, die oft aufgrund der Beweislage nach kurzer Zeit wieder eingestellt werden muss.

"Jüdisches Leben ist wieder sichtbarer"

tagesschau.de: Andererseits ist jüdisches Leben in Deutschland auch präsenter geworden.

Alter: Das stimmt. Während der Zuwanderung aus der Sowjetunion in den späten 1980er-Jahren haben sich die Mitgliederzahlen in den Gemeinden fast verfünffacht. Dadurch wurde jüdisches Leben wieder ein wenig sichtbarer. Es gibt wieder zwei Rabbinerseminare in Deutschland. Gerade Berlin hat sich zu einem Zentrum jüdischer Kultur entwickelt. Es gibt hier viele jüdische Künstlergruppen und Berlin ist gerade für junge Israelis 'the place to be'. Es gibt mehr jüdische Infrastruktur, wie beispielsweise Geschäfte für koschere Lebensmittel, Schulen und Kindergärten.

tagesschau.de: Sehen Sie da einen Zusammenhang zum wachsenden Antisemitismus?

Alter: Nein, den sehe ich nicht. Wir haben 80 Millionen Einwohner in Deutschland und etwa 120.000 Mitglieder in unseren Gemeinden. Das ist ein verschwindend geringer Anteil von Juden - die meisten Menschen bekommen ja gar nichts von uns mit. Viele Menschen, die sich antisemitisch verhalten, haben auch noch nie einen lebenden Juden gesehen.

Ich erinnere mich an eine Situation mit Jugendlichen: Da wurde ich als Jude identifiziert und einer schrie mir sofort herzhaft entgegen: 'Ich hasse alle Juden.' Ich fragte: 'Und wie viele kennst du?' Er: 'Äh, keinen.' Dieses Erlebnis spricht für mich Bände. Ein Anstieg von Antisemitismus braucht keine Juden.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 09. November 2013 um 09:00 Uhr.