Gesetz zur Intensivpflege "Ich will selbst entscheiden, wie ich lebe"
Verena Wieser ist von der Schulter abwärts gelähmt und wird liebevoll zu Hause betreut. Durch ein geplantes Gesetz muss sie womöglich in ein Heim. "Dann würde ich lieber sterben", sagt sie im tagesschau.de-Interview.
tagesschau.de: Welche Erkrankung beziehungsweise Behinderung haben Sie?
Verena Wieser: Ich habe eigentlich einen angeborenen Herzfehler und bei einer der dadurch notwendigen Operationen ist etwas schief gelaufen. Eine Einblutung drückte auf das Rückenmark und wurde zu spät entfernt. Deshalb bin ich jetzt von den Schultern abwärts gelähmt. Ich kann nur noch meinen Kopf bewegen. Und ich muss rund um die Uhr beatmet werden. Gott sei Dank kann ich normal essen und selbst schlucken, wenn mir jemand das Essen anreicht.
Sprechen, E-Mails schreiben, Ausflüge machen
tagesschau.de: Wie können Sie am sozialen Leben teilnehmen?
Wieser: Ich werde zu Hause rund um die Uhr von einem Intensivpflegedienst versorgt, der sehr gute Arbeit macht. Außerdem betreuen mich mein Mann und meine Eltern, die extra von Herzogenaurach nach München gezogen sind. Sie kümmern sich tagsüber um mich, bis mein Mann von der Arbeit kommt. Sprechen funktioniert bei mir ganz gut, auch wenn ich das im Krankenhaus durch die Beatmung erst wieder habe lernen müssen. Ich kann auch mithilfe eines speziellen Mundstücks E-Mails schreiben oder im Internet surfen.
Verena Wieser und ihr Mann machen Ausflüge und Urlaub mit einer selbstgebauten Fahrradrikscha.
Wir machen auch Ausflüge oder Reisen. Wir haben einen Wohnwagen gekauft, den mein Mann für meine Bedürfnisse umgebaut hat, zum Beispiel ist ein Pflegebett darin. Mein Mann ist Maschinenbauer, da habe ich Glück. Er hat auch ein Fahrrad für mich gebaut, das sieht aus wie eine Rikscha, das nutzen wir im Sommer ganz intensiv.
"In den Urlaub müssen zwei Pfleger mitkommen"
tagesschau.de: Aber eine Pflegekraft muss immer an Ihrer Seite sein?
Wieser: Ja, weil ich eine Beatmungskanüle habe und da kann immer etwas passieren, das lebensbedrohlich sein kann. Die Kanüle könnte herausfallen oder verstopfen oder mein Blutdruck sinkt so stark ab, dass ich sofort Medikamente brauche. Wenn wir in den Urlaub fahren, müssen deshalb immer zwei Pfleger mitkommen, denn sie müssen sich ja auch abwechseln. Dann sind wir auch auf das Wohlwollen des Pflegedienstes und der Pfleger angewiesen.
tagesschau.de: Wie sieht Ihr Alltag aus?
Wieser: Meine Mutter kommt morgens und gibt mir etwas zu essen, am Wochenende macht das mein Mann. Dann werde ich vom Pflegepersonal gewaschen, muss eine Weile inhalieren, oft habe ich Physio- oder Ergotherapie. Dann schaue ich manchmal etwas fern und esse zu Mittag. Später gehe ich in den Rollstuhl und ein bisschen raus oder an den Computer. Ich habe auch einen E-Book-Reader, mit dem ich Bücher lesen kann.
Nach dem Abendessen schauen mein Mann und ich meistens noch einen Film. Das ist gut, denn ich habe auch relativ starke Schmerzen und muss viele Schmerzmittel nehmen, und davon lenkt mich das ab.
Verena Wieser: "Momentan ist immer jemand für mich da und ich kann viel unternehmen."
"Ich könnte mein Leben nicht mehr so leben wie jetzt"
tagesschau.de: Sie haben einen offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn geschrieben. Warum?
Wieser: Weil ich Bedenken habe, dass ich durch das geplante Intensivpflegestärkungsgesetz in ein Heim "abgeschoben" werden soll. Der erste Entwurf des Gesetzes will ja die stationäre Betreuung von Intensivpflegepatienten zur Regel machen. Ich könnte mein Leben nicht mehr so leben wie jetzt. Momentan ist immer jemand aus meiner Familie für mich da und ich kann sehr viel unternehmen. Das würde alles wegfallen. Und das hätte sicher sehr starke Auswirkungen auch auf meine Psyche. Ich habe ohnehin bereits Depressionen durch meine Krankheit. Das würde sicher gravierender werden.
Deshalb habe ich an Herrn Spahn geschrieben, dass ich lieber sterben würde, als meine Freiheit und die unmittelbare Unterstützung meiner Familie zu verlieren und mein teuer erworbenes Eigenheim aufzugeben.
Im Heim wird man nur noch versorgt: fernsehen, essen, schlafen. Und wegen Personalmangels in Heimen ist auch die Versorgung oft schlechter, die Gefahr, sich wund zu liegen oder einen Krankenhauskeim zu bekommen, größer. Ich hingegen werde von meinem ambulanten Pflegedienst sehr gut und kompetent versorgt. Nicht alle Pflegedienste sind schlecht.
"Menschen wie ich dürfen nicht Willkür ausgesetzt sein"
tagesschau.de: Was müsste sich an der geplanten Gesetzgebung ändern?
Wieser: Herr Spahn hat zwar bereits Verständnis für Menschen in meiner Situation geäußert, aber es ist immer noch nicht eindeutig, wo die Grenze gezogen wird. Welche Menschen in ein Heim müssen und welche nicht.
Menschen wie ich dürfen nicht der Willkür ausgesetzt sein von Leuten, die Gutachten erstellen. Wie ich lebe, will ich selbst entscheiden. Das ist ein verfassungsmäßiges Recht eines jeden Menschen, und das muss auch für Behinderte gelten.
tagesschau.de: Ein Anliegen des Gesetzes ist ja, einen Missstand zu beheben: Gerade in ambulant betreuten Pflege-WGs ist die Versorgung offenbar häufig schlecht und Patienten sowie Personal werden abgezockt. Wie könnte eine sinnvolle Lösung aussehen, die den unterschiedlichen Situationen von Pflegebedürftigen gerecht wird?
Wieser: Natürlich gibt es beispielsweise Wachkoma-Patienten, bei denen sich die Familien vielleicht eine stationäre Unterbringung nicht leisten können und nicht immer jemand da sein kann. Die sind dann in der Tat in solchen "schlechten" Pflege-WGs dem System hilflos ausgeliefert. Aber ich denke, Menschen, die in der Lage sind, ihren eigenen Willen klar zum Ausdruck zu bringen, müssen auch Entscheidungsfreiheit haben. Dies gilt auch für Angehörige, die ihre unmündigen Verwandten gerne zu Hause betreuen wollen.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.