Merkel und die Flüchtlingsfrage Führung durch Emotion?
Die Kanzlerin sei beim Sondertreffen mit den Ministerpräsidenten zur Flüchtlingskrise authentisch gewesen, sagt ARD-Hauptstadtstudio-Chefin Tina Hassel. Im Interview mit tagesschau.de erklärt sie, warum die Flüchtlingsfrage entscheidend für Merkel sein kann.
tagesschau.de: Mit dem Bund-Länder-Spitzentreffen im Kanzleramt wollte Angela Merkel Struktur in die Flüchtlingshilfe bringen. Inwieweit ist ihr das gelungen?
Tina Hassel: Angela Merkel ist vor allem eines gelungen: Sie hat mit ihrem emotionalen Statement im Vorfeld des Krisengesprächs, während der Pressekonferenz mit dem österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann, den Druck aus dem Kessel gelassen. Wir wussten aus verschiedenen Gesprächen, dass die Ministerpräsidenten zum Teil nach der recht spontanen Grenzöffnung sehr verärgert waren.
"Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land."
Merkel aber konnte eine andere Richtung und einen anderen Ton setzen, nämlich: Wir dürfen die Menschen, die in unserem Land Schutz suchen, nicht alleinlassen - was wäre das sonst für ein Land? Aus dem Ärger der Länder wurde so Ernsthaftigkeit und Konzentration, getragen von dem gemeinsamen Wunsch, die Krise in den Griff zu bekommen.
Seit dem 1. Jul 2015 leitet Tina Hassel das ARD-Hauptstadtstudio in Berlin und moderiert im Wechsel mit Thomas Baumann den "Bericht aus Berlin". Als Studioleiterin war sie auch in Washington tätig. Während ihrer Zeit als Auslandschefin des WDR präsentierte Hassel den "Weltspiegel". Von 1994 bis 1999 war sie ARD-Korrespondentin in Paris, danach in Brüssel.
tagesschau.de: Entdeckt Merkel Emotionalität als neues politisches Stilmittel?
Hassel: Ich empfinde die Kanzlerin an dieser Stelle als sehr authentisch. Sie sendet an ihre Kritiker die klare Botschaft aus, dass sie bei ihrer Position der Hilfsbereitschaft bleibt, die sie während der Grenzöffnung eingenommen hat. Merkel weiß aber auch, dass die Flüchtlingsfrage zum Test für ihre Führungsfähigkeiten und damit auch für ihre nächste Kanzlerkandidatur geworden ist. Auch Teile der CDU beklagen ja den Kontrollverlust von Politik, wenn auch sehr viel leiser, als es die CSU tut.
Wenn es Merkel gelingt, auch auf europäischer Ebene wieder so etwas wie Gemeinsamkeit und Solidarität durchzusetzen, wird sie das sehr stärken. Gelingt das nicht, hat sie ein großes Problem.
"Es muss Tacheles geredet werden."
tagesschau.de: Wie weit reichen die jetzt getroffenen Absprachen? Wo besteht noch Handlungsbedarf?
Hassel: Positiv wird das Signal wahrgenommen, dass sich der Bund mehr als bisher engagiert. Der Bund will ja die Verteilung der Flüchtlinge auf die einzelnen Länder übernehmen. Allerdings weiß man noch nicht, wo und wie das geschehen soll. Auch die Einrichtung von Erstaufnahmeplätzen durch den Bund, bisher alleinige Aufgabe der Länder, kommt gut an.
Dennoch dürfte aus Sicht der Ministerpräsidenten das Glas mit den Ergebnissen des Krisengesprächs eher halbleer denn halbvoll sein. Unklar ist nämlich nach wie vor, wie die Asylverfahren beschleunigt werden können. Über zusätzliches Geld ist bislang noch gar nicht gesprochen worden. Das wird dann spätestens auf dem Flüchtlingsgipfel am 24. September der Fall sein. Dann muss Tacheles geredet werden.
tagesschau.de: Geplant sind unter anderem sogenannte "Drehkreuze", über die die Flüchtlinge auf die Bundesländer verteilt werden sollen. Dagegen wehrt sich zum Beispiel der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier, einer der Stellvertreter Merkels im CDU-Bundesvorstand. Heißt das, dass auch parteiintern der Widerspruch nicht nachlassen wird?
Hassel: In der Union rumort es in der Tat. Hinter vorgehaltender Hand teilt der ein oder andere in der CDU die fundamentale Kritik der CSU an der Willkommenskanzlerin. Ich sehe die Differenzen aber eher zwischen Bund und Ländern. Unter den Ländern kann ich interessante, vielleicht sogar außergewöhnliche Allianzen ausmachen. Die gehen vom CDU-geführten Hessen über die CSU in Bayern bis hin zur Linkspartei in Thüringen.
Aber ohne eine faire und gerechte Verteilung in den Bundesländern wird Deutschland nie eine faire und gerechte Verteilung der Flüchtlinge in Europa durchsetzen können, was wiederum nicht im Interesse der Bundesländer ist. Diesen Trumpf hat Merkel in der Hand. Auf der anderen Seite haben die Länder zugesagt, die Aufnahme jetzt nach dem Königsteiner Schlüssel durchzuführen. Da bewegt sich also was. Entscheidend ist der 24. September.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de