Politologe zur Europawahl "Denkzettel für nationale Regierungen"
Mit ihrer Stimme für rechtspopulistische Parteien wollten die Wähler in erster Linie ihre nationalen Regierungen abstrafen. Ein Votum gegen die Europäische Union sei das nicht, sagt der Politologe Tim Spier im Gespräch mit tagesschau.de.
tagesschau.de: In mehreren Ländern sind rechtsextreme beziehungsweise -populistische Parteien jeweils stärkste Kraft geworden. Woran liegt das?
Tim Spier: Generell hat das noch immer mit der andauernden Wirtschafts- und Finanzkrise zu tun, die sich vor allem in den südeuropäischen Ländern nachdrücklich auswirkt. Ansonsten sind die Ursachen in den einzelnen Ländern unterschiedlich. In Frankreich zeigt sich ein längerer Trend: Marine Le Pen hat es geschafft, eine breitere, bürgerliche Wählerschicht für sich zu gewinnen. Das war ihrem Vater Jean-Marie Le Pen mit seinem dezidiert rechtsextremen Programm zuvor nicht gelungen. Hinzu kommt, dass die Franzosen sehr verärgert über die amtierende sozialistische Regierung sind.
In Österreich befindet sich die FPÖ in einem Aufholprozess. Bei der vergangenen Europawahl waren die FPÖ und das von Jörg Haider gegründete, konkurrierende Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) getrennt angetreten. Die Stimmen, die die BZÖ damals bekam, hat die FPÖ jetzt wieder geholt. Und auch hier ist es gelungen, Sympathien in der konservativen Wählerschaft zu gewinnen.
In Großbritannien hat man mit der UKIP zwar keine klassische rechtspopulistische Partei, aber doch eine, die viele typisch rechtspopulistische Elemente übernimmt. Hier dürfte David Cameron maßgeblich zum Wahlerfolg der konkurrierenden UKIP beigetragen haben: Er hat das Thema Europafeindlichkeit in den vergangenen Jahren sehr stark gemacht und damit der UKIP, die noch viel europakritischer auftritt, die politische Agenda bereitet.
"Keine inhaltlichen Akzente der Rechtspopulisten"
tagesschau.de: Wie wirkt sich das Erstarken der Rechtspopulisten auf die Arbeit des Europaparlaments aus?
Spier: Bei bis zu 90 Mandaten der verschiedenen rechtspopulistischen Parteien wird es schwieriger werden, Mehrheiten zu bekommen - zum Beispiel, wenn es um die Wahl des europäischen Kommissionspräsidenten geht.
Ich gehe aber nicht davon aus, dass sie inhaltlich große Akzente setzen werden. Populisten sind nie gut darin, Regierungshandeln zu beeinflussen oder mitzugestalten. Dafür sind ihre Forderungen viel zu plakativ. Außerdem werden sie sich ja nicht als eine Fraktion zusammenschließen, weil sie zum Teil zerstritten sind. Die Rechtspopulisten einiger Länder grenzen sich bewusst gegen andere Länder ab und wollen oft das Gegenteil von dem, was Rechtspopulisten eines anderen Landes wollen. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass sie sich auf eine konsistente politische Linie einigen werden.
tagesschau.de: Was bedeutet der Wahlerfolg des rechten Flügels für die Idee Europa?
Spier: Ich glaube nicht, dass das ein Votum gegen die Europäische Union war. In Einzelfällen, wie bei der UKIP, mag das zwar der Fall sein. Hier ging es ja wirklich darum, Großbritannien aus der EU zu holen. Aber in den anderen Ländern ist das in erster Linie ein Denkzettel für die nationalen Regierungen. Das ist typisch für Europawahlen, dass Wähler durch ihre Stimme für Rechtspopulisten die eigene Regierung abstrafen wollen.
"Ergebnis der AfD nicht überbewerten"
tagesschau.de: Auch in Deutschland hat mit der AfD eine eurokritische Partei einer Wahlerfolg errungen. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Partei sich bald auch in der nationalen Politik als fünfte Kraft etablieren kann?
Spier: Ich finde, das Wahlergebnis war eher ein Rückschlag für die AfD. Sie ist zwar mit sieben Prozent ins Europaparlament eingezogen, das ist natürlich ein Erfolg. Aber wenn man sich das Wahlergebnis genauer anschaut, hat die AfD es gerade geschafft, die Wähler zu halten, die sie schon bei der Bundestagswahl hatte, nämlich etwa zwei Millionen. Das sind nicht unbedingt die gleichen Wähler, aber einen deutlichen Zuwachs sehe ich nicht. Und das hätte man bei ihrer Thematik gerade bei einer Europawahl ja erwarten können.
Deshalb würde ich das Ergebnis der AfD jetzt nicht überbewerten. Erst bei den nächsten Landtagswahlen und der Bundestagswahl wird sich zeigen, wie stark die Partei wirklich ist. Denn es gibt für neue politische Parteien am Anfang immer einen Aufmerksamkeitskorridor von ein bis zwei Jahren. Da sind sie in den Medien sehr präsent und das sorgt indirekt für Unterstützung. Man hat bei den Piraten gesehen, dass sie das sozusagen ungenutzt verstreichen ließen. Bei der AfD könnte das ähnlich sein.
"SPD auf Erholungskurs"
tagesschau.de: Die SPD feiert, weil sie mit sechseinhalb Prozentpunkten den historisch größten Zugewinn bei bundesweiten Wahlen erzielen konnte. Wie stark ist der Rückenwind für Martin Schulz auf seinem Weg an die Spitze der EU-Kommission?
Spier: Zunächst mal ist das ein Achtungserfolg für die SPD. Sie ist bundespolitisch auf einem Erholungskurs. Die schwierigen Agendajahre, die in katastrophale Wahlniederlagen mündeten, sind halbwegs überwunden. Unter Sigmar Gabriel ist die SPD in ein ruhigeres Fahrwasser gekommen.
Für Martin Schulz wird es dennoch schwierig werden. Zunächst mal müssen die Staats- und Regierungschefs der EU davon überzeugt sein, dass hinter ihm eine Mehrheit im Europaparlament steht. Die EVP und die Sozialdemokraten haben sich zwar eigentlich darauf geeinigt, dass man den Kandidaten durchsetzen will, der der stärksten der beiden Fraktionen angehört. Das ist aber noch nicht auszumachen, denn das hängt auch davon ab, wer künftig der EVP angehören wird. Es ist ja noch nicht klar, ob beispielsweise die Berlusconi-Partei Forza Italia weiter dabei sein wird.
"Union wird künftig stärker europäische Wahlkämpfe machen"
tagesschau.de: Die Union ist zwar stärkste Kraft, hat aber insgesamt ein deutlich schlechteres Ergebnis als noch bei der Bundestagswahl. Woran lag das?
Spier: Die Christdemokraten haben einen Dämpfer bekommen. Es ist das schlechteste Ergebnis der Union bei europäischen Walen und das ist ein Ausrufezeichen für eine Partei, die dezidiert europäisch denkt. Sicherlich lag das größtenteils daran, dass die CSU sehr schlecht abgeschnitten hat, weil der europakritische und populistisch zugespitzte Wahlkampf der großen Masse der bayerischen Wähler wohl doch nicht gefallen hat.
tagesschau.de: Welche Konsequenzen könnte die Union daraus ziehen?
Spier: Es wird wohl der letzte Europawahlkampf der Union gewesen sein, bei dem man die Parteichefin plakatiert, obwohl sie gar nicht zur Wahl steht. Ich denke die Union wird in Zukunft auch europäische Wahlkämpfe machen, dann ist den Wählern auch klar, worum es eigentlich geht. Man kann nicht die Kanzlerin plakatieren und meinen, dass man allein dafür die Stimmen bekommt.
Bei den Sozialdemokraten sieht man im Gegenzug, dass die Personalisierung auf Martin Schulz als künftigen Kommissionspräsidenten sehr gut funktioniert hat. Der stand allerdings auch tatsächlich auf der Liste und die SPD hat gezeigt, 'wir stehen hinter ihm und wollen, dass er Kommissionspräsident wird'. Diese Zuspitzung hat sicherlich auch stark dazu beigetragen, dass die Wahlbeteiligung in Deutschland gestiegen ist.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de