Interview

Interview: Was ist das Integrationsprogramm wert? "Der Migrationshintergrund allein ist kein Kriterium"

Stand: 08.09.2010 18:05 Uhr

Lösen mehr Lehrer mit Migrationshintergrund das bundesdeutsche Integrationsproblem? In Stuttgart setzt sich die Initiative "Migranten machen Schule" für interkulturelle Kompetenz ein. Deren Mitbegründer Lazaridis erklärt im Interview mit tagesschau.de, was und was nicht solche Lehrer leisten können.

tagesschau.de: Das Integrationsprogramm der Bundesregierung sieht vor, mehr Lehrer mit Migrationshintergrund zu beschäftigen. Sie selbst sind Schulleiter mit Migrationshintergrund - was können Sie dadurch besser als andere?

Vittorio Lazaridis: (lacht..) Das ist natürlich eine sehr intelligente Frage, wenn ich das mal so sagen darf. Ich kann wahrscheinlich nichts besser als andere Lehrerinnen und Lehrer. Zu denken, der Migrationshintergrund alleine wäre ein Qualitätskriterium, wäre verkürzt. Es geht darum, dass wir gute Lehrer in Deutschland bekommen. Das ist ein Problem für sich. Wenn diese Lehrer dann einen Migrationshintergrund haben, dann haben sie einen Mehrwert.

Zur Person
Geboren wird Vittorio Lazaridis in der Schweiz als Sohn einer italienischen Mutter und eines griechischen Vaters. Seit 1970 lebt die Familie in Deutschland. Nach dem Schulbesuch in Stuttgart-Untertürkheim studiert Lazaridis Politikwissenschaften, Amerikanistik und Pädagogik.

Seit 2003 leitet der ausgebildete Sonderschullehrer die Berger Schule in Stuttgart, die Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten fördert. 2008 gehört Lazaridis zu den Gründern der Initiative "Migranten machen Schule". Das Netzwerk von etwa 40 Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund will interkulturelle Kompetenz in der Lehrerausbildung etablieren. Für die Grünen sitzt Lazaridis im Stuttgarter Gemeinderat.

tagesschau.de: Können Lehrer mit Migrationshintergrund verhindern, dass 15 Prozent der Ausländer die Schule ohne Abschluss verlassen?

Lazaridis: Ob sie das verhindern könnten, das müsste man sehen. Klar ist: Wenn ein Lehrer mit Migrationshintergrund diesen bewusst einbringen kann, dann bringt das gewisse Vorteile mit sich. Er kann zum Beispiel aufgrund seiner eigenen Erfahrung gewisse Potenziale bei Schülern erkennen und diese individuell besser fördern. Er kann vielleicht Exklusionsprozesse erkennen. Wir haben gerade in Baden-Württemberg die Situation, dass viele Kinder sehr schnell in Sonderschulen landen. Und er kann als Lehrperson, als Kollege im Kollegium, auch Schulentwicklungsprozesse anregen und dafür sorgen, dass sich auch die Schule weiterentwickelt.

tagesschau.de: Was genau befähigt ihn dazu?

Lazaridis: Das ist natürlich in erster Linie seine eigene Erfahrung. Auch für den Lehrer ist die Biografie das erste, aus dem er schöpfen kann. Und dann sind es auch konkrete Einzelheiten: Lehrer mit Migrationshintergrund kennen teilweise kulturelle Hintergründe besser als andere Kolleginnen und Kollegen. Sie sind teilweise noch mehrsprachig, auch das kann ein Vorteil sein. Vor allen Dingen aber sind sie eines, und das ist ganz ganz wichtig: Sie können für die Jugendlichen so etwas wie Vorbilder sein und im Verhältnis zu den Eltern auch Brückenbauer.

tagesschau.de: Wäre es nicht sinnvoller, wenn ausländische Schüler vermehrt von deutschen Lehrern unterrichtet werden, damit man sich besser kennenlernt? Ist der gemeinsame Migrationshintergrund von Lehrern und Schülern nicht doch ein Stück Ausgrenzung oder gar Bestätigung von Vorurteilen?

Lazaridis: Solange der Lehrer mit Migrationshintergrund die absolute Ausnahmeerscheinung ist in deutschen Klassenzimmern, sehe ich diese Gefahr nicht. Wir müssen das auch nicht überhöhen. Es wäre zu einfach zu sagen, wenn wir jetzt Lehrer mit Migrationshintergrund hätten, dann hätten wir unsere Probleme gelöst. Wenn wir wie in Stuttgart mehr als 50 Prozent Kinder unter zwölf Jahre mit Migrationshintergrund haben, dann gehört es zur Normalität im Alltag und in der Schule, dass diese Kinder unter anderem von Menschen mit ähnlichen Hintergründen unterrichtet werden.

Städtecheck
In Stuttgart leben fast doppelt so viele Ausländer wie in Berlin. Während in der Bundeshauptstadt der Ausländeranteil bei 13,5 Prozent liegt (Stand Juni 2010), liegt er in der baden-württembergischen Landeshauptstadt bei 21,3 Prozent (Stand Ende 2008). Die meisten Ausländer sind Türken.

38,5 Prozent der Stuttgarter haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Dazu zählen Ausländer, Eingebürgerte, Aussiedler und deren minderjährige Kinder. Betrachtet man die Gruppe der Stuttgarter Kinder und Jugendlichen, dann liegt der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund bei 56 Prozent. Die Stadt gibt für Kinder und Jugendliche insgesamt fast 600 Millionen Euro pro Jahr aus. 22 Prozent der Studenten an Stuttgarter Hochschulen sind ebenso Ausländer wie 14 Prozent der Beschäftigten der Stadtverwaltung. Insgesamt leben in Stuttgart fast 600.000 Menschen.

tagesschau.de: Bundesinnenminister Thomas de Maizière sprach von "zehn bis 15 Prozent integrationsunwilliger Ausländer". Wie erleben Sie Unwilligkeit in Ihrer praktischen Arbeit?

Lazaridis: Das ist immer schwer zu sagen, ob diese Menschen tatsächlich "unwillig" sind. Wir müssen nicht drumrum reden: Es gibt Menschen, die es sich in ihrer kulturellen Nische bequem gemacht haben. Die haben ihre Rückzugsräume, und die sind bei uns in der Gesellschaft nicht angekommen. Das führt dazu, dass wir oft in der schulischen Praxis Schwierigkeiten haben, wenn wir Eltern zu Elterngesprächen einladen. Wenn wir sie zur Mitarbeit in der Schule motivieren wollen. Da müssen wir sehr stark auf diese Menschen zugehen. Es verlangt von uns als Lehrer einen größeren Aufwand, ganz bestimmt.

tagesschau.de: Was kann ein bundesweites Integrationsprogramm in diesem Zusammenhang leisten? Ist Integration nicht viel besser vor Ort und in konkreten Zusammenhängen aufgehoben?

Lazaridis: Ich bin auch relativ skeptisch, ob bundesweite Programme irgendwelche Erfolge erzielen. Die Grundvoraussetzungen sind immer völlig verschieden. Schon in Stuttgart haben wir eine andere Situation als in Konstanz. Jede Kommune, jede Stadt muss für sich einen Weg finden. Die Probleme einer Großstadt sind andere als die auf dem "platten" Land, das ist einfach so. Wir sind gut beraten, auf kommunaler Ebene zu handeln. Hilfreich aber ist ein Grundkonsens auf Bundesebene allemal.

Die Fragen für tagessschau.de stellte Ute Welty.