interview

60 Jahre Gastarbeiter "Es gab damals keine Konzepte"

Stand: 07.12.2015 05:00 Uhr

Deutschland darf in der Flüchtlingskrise die Fehler nicht wiederholen, die bei der Integration der Gastarbeiter gemacht wurden, sagt Staatsministerin Aydan Özoguz im tagesschau.de-Interview. Die Menschen seien eine Chance für das Land.

tagesschau.de: Vor 60 Jahren schloss die Bundesrepublik Deutschland mit Italien das erste Anwerbeabkommen für Gastarbeiter. Welche Bedeutung hatte dieser Schritt?

Aydan Özoguz: Das Anwerbeabkommen hat Deutschland verändert. Es ist ein Teil der Geschichte dieses Landes, der aber bei manchen noch nicht ganz im Bewusstsein angekommen ist. Zwar haben die allermeisten Gastarbeiter Deutschland wieder verlassen, aber es sind auch viele Menschen geblieben und inzwischen zu Deutschen geworden. Heute hat jeder fünfte Deutsche eine Einwanderungsgeschichte in der Familie - der größte Teil kommt von der Gastarbeiteranwerbung.

Zur Person
Aydan Özoğuz ist Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration und Staatsministerin im Bundeskanzleramt. Die stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende wurde 1967 als Kind türkischer Kaufleute in Hamburg geboren.

tagesschau.de: Ihre Eltern kamen aus der Türkei nach Deutschland. Wie wurde Ihre Familie aufgenommen?

Özoguz: Mit den Nachbarn hatten wir immer sehr viel Glück, mit den Behörden war das etwas anders. Meine Eltern kamen als Unternehmer nach Deutschland, haben aber ganz selbstverständlich einen Gastarbeiterstempel in den Pass bekommen. Ich übrigens auch. Die Gleichung war damals: Türke = Gastarbeiter.

tagesschau.de: Also keine wirkliche Willkommenskultur?

Özoguz: Meine Freunde aus Gastarbeiterfamilien und ich haben alle sehr ähnliche Dinge in unserer Jugend erlebt. Es gab Paten und Nachbarn, die sich ganz fürsorglich um Jugendliche gekümmert haben. Dort ist es mit der Integration dann meistens gut gelaufen. Aber es gab auch andere Erlebnisse. Das Schulsystem war beispielsweise alles andere als einwanderfreundlich. Die Übersetzungsleistung etwa, die mehrsprachig aufgewachsene Kinder im Unterricht erbracht haben, wurde nicht einmal wahrgenommen. Das hat die Politik viel zu spät gemerkt - mit dem Pisa-Schock von 2001.

"Integrationskurse erst 50 Jahre nach der Anwerbung"

tagesschau.de: Welche anderen Gründe sehen Sie dafür, dass die Integration der Gastarbeiter lange nicht gut funktioniert hat?

Özoguz: Es gab damals keine Konzepte. Ich kann verstehen, dass man nach den ersten Anwerbeabkommen dachte, die Menschen würden wieder gehen. Das dachten die meisten Gastarbeiter ja auch. Aber auch später wurde kaum etwas für eine wirkliche Integration getan. Der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Heinz Kühn, hat bereits 1978 gefordert, dass wir uns verstärkt um Sprachkurse und Bildung kümmern müssen. Das hatte aber keine Auswirkungen.

Ein Beispiel: Als die Spätaussiedler in den frühen 90er-Jahren nach Deutschland kamen, wurden ihnen ganz selbstverständlich Deutschkurse angeboten. Aber selbst dann kam niemand auf die Idee, auch flächendeckend Deutschunterricht für die ehemaligen Gastarbeiter anzubieten. Das ist für mich schwer akzeptabel. Integrationskurse gibt es verbindlich erst seit 2005. Das war 50 Jahre nach der ersten Anwerbung.

tagesschau.de: Derzeit kommen wieder Hunderttausende Menschen nach Deutschland - die meisten als Flüchtlinge. Welche Lehren muss die Politik aus den Versäumnissen der Vergangenheit ziehen, damit die Integration dieser Menschen funktioniert?

Özoguz: Das Wichtigste ist, dass wir die Fehler nicht wiederholen. Der fundamentale Denkfehler damals war, zu glauben, dass die Menschen sowieso wieder gehen. Das ist heute nicht mehr so in den Köpfen verankert. Wir brauchen für die Flüchtlinge, die hier bleiben werden, schnell Integrationskurse und Deutschunterricht. Die Flüchtlinge sind eine Chance für Deutschland. Uns fehlen heute bereits junge Menschen - und in der Zukunft werden uns auch Arbeitskräfte fehlen, da Millionen Arbeitnehmer in den Ruhestand gehen werden.

"Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter"

tagesschau.de: Die Bevölkerung sieht den Kurs der Großen Koalition im Umgang mit den Flüchtlingen kritisch. Was hätte die Bundesregierung tun müssen, um die Willkommensstimmung aus dem Sommer zu erhalten?

Özoguz: Der Krieg in Syrien wird immer schlimmer - das spannt die Situation auch hier bei uns immer weiter an. Hinzu kommt, dass die Terroranschläge in den vergangenen Wochen die Ängste in der Bevölkerung angefacht haben. Der Wunsch nach einer Begrenzung der Flüchtlingszahlen ist verständlich angesichts so vieler Menschen, die zu uns kommen - und daran arbeiten wir ja auch.

Der Vorschlag der Bundesregierung nach einer Kontingentlösung wäre da ein wichtiger Schritt. Leider versagt die EU hier völlig und scheint ihre eigenen Grundwerte vergessen zu haben. Allen Mitgliedstaaten sollte aber klar sein: Wer sich in der Flüchtlingspolitik vor Verantwortung drückt, darf nicht auf Solidarität in anderen Bereichen hoffen.

tagesschau.de: Von 14 Millionen Gastarbeitern, die bis zum Anwerbestopp 1973 nach Deutschland kamen, haben rund elf Millionen das Land wieder verlassen. Ist ein vergleichbares Rückkehrer-Verhältnis auch für die derzeit ankommenden Flüchtlinge denkbar?

Özoguz: Das glaube ich nicht. Wir haben heute eine ganz andere Ausgangslage. Wenn morgen in Syrien Frieden wäre, würden bestimmt 90 Prozent der Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurückkehren. Wenn der Krieg noch Jahre dauert, dann werden viele in Deutschland bleiben. Wenn die Menschen hier erst einmal verankert sind, wird es für sie schwierig, wieder zurückzugehen.

Das Gespräch führte Julian Heißler, tagesschau.de