Der zweite Senat beim Bundesverfassungsgericht

Urteil zur Wahlrechtsreform "Eine Klatsche für die Ampel"

Stand: 30.07.2024 14:57 Uhr

Vor allem Linke und CSU lehnten die Wahlrechtsreform der Ampel ab. Das Karlsruher Urteil kommt ihnen also gerade recht. CSU-Chef Söder sprach von einer Klatsche und kündigte an, weitere Teile der Novelle rückgängig machen zu wollen.

Die Union wertet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht als Schlappe für die Ampel-Regierung. Der CDU-Rechtspolitiker Günter Krings sprach im Deutschlandfunk von einer großen Niederlage der Ampel wegen der Verschärfung der Fünf-Prozent-Klausel.

Die Stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Andrea Lindholz, sagte RTL/ntv, es sei richtig, dass das Gericht die von der Ampel geplante Aufhebung der sogenannten Grundmandatsklausel gestoppt habe. "Ich bin sehr froh, dass das Bundesverfassungsgericht kleine Parteien, regionale Parteien wie auch die CSU damit stärkt."

Christoph Mestmacher, ARD Berlin, zu den Reaktionen auf das Urteil zur Wahlrechtsreform

tagesschau24, 30.07.2024 14:00 Uhr

CSU denkt über weitere Änderung nach

Das Urteil lässt aus ihrer Sicht Spielraum für mögliche Änderungen nach der nächsten Bundestagswahl. Die CSU-Politikerin stellt vor allem infrage, dass einige Wahlkreis-Sieger leer ausgehen könnten. "Dass Wahlkreise nicht zugeteilt werden, mag juristisch vertretbar sein - es ist allerdings demokratiegefährdend", schrieb die Bundestagsabgeordnete auf X. "Diese Regelung müssen wir abschaffen", fügte sie hinzu.

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte: "Dieses Element werden wir nach der Bundestagswahl korrigieren und der Direktwahl in den Deutschen Bundestag in den Wahlkreisen wieder mehr Gewicht verleihen." In der Union ist das allerdings umstritten.

Söder spricht von "Wahlmanipulation" der Ampel

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder nahm das Wahlrechtsurteil mit Genugtuung auf. "Das ist ein klarer Erfolg für die CSU und Bayern - und eine Klatsche für die Ampel. Die Wahlmanipulation der Ampel ist entlarvt und richterlich verworfen worden", sagte der CSU-Vorsitzende der Nachrichtenagentur dpa.

"Das Urteil ist eine Bestätigung in unserem Kernanliegen, der sogenannten Grundmandatsklausel. Damit ist nach menschlichem Ermessen sichergestellt, dass die CSU im nächsten Bundestag vertreten ist", sagte Söder. Wermutstropfen sei die Akzeptanz der neuen Zuteilungsregelung, denn diese bedeute ein Minus an direkter Demokratie.

CSU will Zuteilungsregelung korrigieren

Nach dem neuen Wahlrecht ist für die Zahl der Sitze im Parlament künftig allein das Zweitstimmenergebnis einer Partei entscheidend - auch dann, wenn sie mehr Direktmandate geholt hat. Dann gehen die Wahlkreisgewinner mit den schlechtesten Erststimmenergebnissen leer aus.

"Damit ist aber auch klar, dass ein Stimmensplitting dazu führen kann, dass Bayern im nächsten Bundestag schlechter vertreten wäre", argumentierte Söder. "Das heißt: Nur beide Stimmen für die CSU garantieren bayerische Abgeordnete im Bundestag."

Söder kündigte aber auch an, eine unionsgeführte Bundesregierung wolle die neue Zuteilungsregelung wieder korrigieren. "Klar ist auch: Sollten die Wähler uns in der nächsten Regierung sehen, werden wir dieses Ampel-Gesetz umgehend ändern. Das ist für die CSU eine Koalitionsbedingung für eine nächste Bundesregierung."

AfD und Linke begrüßen Urteil aus Karlsruhe

Die AfD findet das Urteil aus Karlsruhe prinzipiell gut. Die nun mögliche Verkleinerung des Bundestags gehe mit deutlichen Einsparungen einher, sagte Partei-Vize Stephan Brandner. Weitere "Reform- und Verkleinerungsschritte" müssten folgen.

Die Linke zeigte sich ebenfalls zufrieden mit dem Urteil. Die geplante Streichung der Grundmandatsklausel sei eine "undemokratische" Entscheidung gewesen, "die das Bundesverfassungsgericht zurecht korrigiert hat", sagte die Linken-Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch im ARD-Morgenmagazin. Dies sei "ein Teilerfolg" für die Linke und andere kleine Parteien, stellte Lötzsch fest.

Die Linken-Politikerin nannte eine Streichung der Grundmandatsklausel "demokratisch überhaupt nicht akzeptabel". Die "Entwertung der Erststimme" sei ein "sehr, sehr großes Problem". Wenn die Wählerinnen und Wähler in einem Wahlkreis einen Kandidaten oder eine Kandidatin mehrheitlich wählen würden, "kann man diesen Menschen nicht erklären, warum diese Person nicht im Bundestag vertreten sein soll", argumentierte Lötzsch, die bei den vergangenen sechs Bundestagswahlen das Direktmandat in ihrem Wahlkreis Berlin-Lichtenberg gewann.

Linken-Politiker Gysi erwartet ein neues Wahlrecht bereits im September für die Bundestagswahl 2025. Der Bundestag müsse sich nun beeilen, sagte Gysi in Karlsruhe. Schon seit Ende Juni dürften Direktkandidatinnen und Direktkandidaten für die Wahl aufgestellt werden. "Eigentlich müssen wir sehr schnell wissen, welches Wahlrecht gilt."

Regierungsparteien sehen Kern der Reform bestätigt

Die Regierungs-Fraktionen von SPD, Grünen und FDP sehen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dagegen nicht als Niederlage. "Das Wichtigste steht nach diesem Urteil fest: Die Verkleinerung des Deutschen Bundestags ist vollbracht und verfassungsgemäß", sagte der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, Dirk Wiese. Schließlich habe das Gericht das System der Zweitstimmendeckung für verfassungsgemäß erklärt. Damit sei nun "Schluss mit Überhang- und Ausgleichsmandaten, die den Bundestag immer weiter vergrößert haben und so seine Arbeitsfähigkeit gefährdet haben".

Auch die Grünen-Fraktionsvorsitzende, Britta Haßelmann, betonte die aus Sicht der Ampel-Koalition positiven Seiten. Sie sagte: "Die gute Nachricht des Tages: Unsere Reform, das neue Wahlrecht, hat Bestand in Karlsruhe." Der Bundestag werde dadurch künftig nicht ständig weiter anwachsen.

Dass für die nächste Wahl nach dem Urteil des Gerichts die Grundmandatsklausel erhalten bleibt, sei aus ihrer Sicht nachvollziehbar, sagte Haßelmann. Wichtig sei, dass durch die Anordnung des Gerichts nun Klarheit herrsche für die anstehende Bundestagswahl im September 2025.

Mützenich hält Wahlrecht-Änderung vor September 2025 für möglich

Auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hält eine Änderung des Wahlrechts vor der nächsten Bundestagswahl für möglich. "Ob wir jetzt noch gesetzgeberische Schritte gehen müssen, werden wir innerhalb der Koalition, aber auch mit der Union beraten", sagte er der Rheinischen Post. Mit dem Urteil gebe es nun eine Gewissheit, dass der neue Bundestag eine Größe von 630 Mitgliedern hat.

Jede weitere Änderung des Wahlrechts werde sich an den Vorgaben des Verfassungsgerichts und der verlässlichen Größenbegrenzung des Bundestages messen lassen müssen, sagte Mützenich.

Buschmann: Blockade hat Konsens verhindert

Justizminister Marco Buschmann von der FDP monierte, dass eine "Blockade" der CSU einen "breiten Konsens mit der Union" bei der Wahlrechtsreform verhindert habe. Somit habe die Regierungs-Koalition das Problem eines "XXL-Bundestags" alleine lösen müssen - und habe dies mit der Reform getan. Buschmann warb für mehr überparteiliche Zusammenarbeit bei wesentlichen politischen Entscheidungen.

Bas: Wichtiges Signal an die Wähler

Aus Sicht von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas ist das Urteil der Verfassungsrichter ein wichtiges Signal an die Wählerinnen und Wähler. Diese wüssten nun, dass "es kein unkontrolliertes Anwachsen des Deutschen Bundestages mehr geben" werde, sagte Bas. Das sei gut, weil es Planungssicherheit schaffe, die Kosten begrenze und die Arbeitsfähigkeit des Parlaments stärke.

Bas erklärte: "Das Bundesverfassungsgericht hat das Herzstück des neuen Wahlrechts - die sogenannte Zweitstimmendeckung - bestätigt und in dem zentralen Punkt der Wahlrechtsreform für die nötige Klarheit und Rechtssicherheit gesorgt." Dass ein Wahlkreissieger künftig nicht mehr automatisch in den Bundestag einziehe, sei vom Gericht als verfassungsrechtlich zulässig erachtet worden.

CSU und Linke sahen sich durch Reform bedroht

Vor allem die Linke profitierte bei der Wahl von 2021 von der Grundmandatsklausel, die dadurch in Fraktionsstärke ins Parlament einziehen konnte. Die Reform würde ihr bei der kommenden Wahl diesen Vorteil nehmen. Auch die CSU sah sich durch die Wahlrechtsreform bedroht. Deshalb zog sie gemeinsam mit der Schwesterpartei CDU vor das Bundesverfassungsgericht, ebenso wie die bayerische Staatsregierung.