Tag der Pressefreiheit "Viel Leid und Mut"
Die Lage in der Ukraine "apokalyptisch", die Übergriffe in Deutschland so zahlreich wie noch nie: Der Leiter des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit erklärt, warum es am Tag der Pressefreiheit dennoch positive Nachrichten gibt.
tagesschau.de: Wie ist die Lage von Journalistinnen und Journalisten weltweit?
Lutz Kinkel: Das Europäischen Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) scannt über die Monitoring-Plattform mappingmediafreedom.org die Lage der Pressefreiheit in Europa und gibt regelmäßig Reports zum Thema heraus. Der wenig überraschende Trend ist: Die Lage der Medienschaffenden hat sich durch den Aufstieg des Rechtspopulismus immer weiter verschlechtert. Die Coronavirus-Pandemie hat diesen Trend verschärft.
Regierungen wie die polnische und die ungarische haben sie als Vorwand genutzt, um den Zugang zu Informationen und Meinungsvielfalt weiter einzuschränken. Russland und Belarus unterdrücken die Meinungsfreiheit brutal. Und wenn ich an China denke, fällt mir nur noch George Orwell ein.
tagesschau.de: Auch in Deutschland gibt es vermehrt Anfeindungen, warum ist das so?
Kinkel: Wir haben 2021 eine Rekordzahl an tätlichen Übergriffen auf Medienschaffende in Deutschland registriert - 83 insgesamt. Das liegt vor allem daran, dass sich Verschwörungserzählungen immer stärker verbreiten, die Journalistinnen und Journalisten als "Feinde" markieren. Das zeigt unser - vom Freistaat Sachsen übrigens co-finanzierter - Report "Feindbild Journalist". Außerdem hat die Zahl der Proteste insgesamt zugenommen, vor allem aufgrund der unangemeldeten "Spaziergänge". Hier gilt die einfache Faustformel: Je mehr Proteste, desto mehr Übergriffe.
tagesschau.de: Was wäre zu tun?
Kinkel: Was zu tun ist, liegt auf der Hand: Das ECPMF unterstützt den Schutzkodex, der Medienhäuser verpflichtet, Kontaktpersonen zu bestellen, die sich um die Gefährdung von Angestellten - und auch freien Mitarbeitern - kümmern. Es wäre auch wünschenswert, wenn die Innenministerkonferenz nach zwei Jahren interner Debatte die Verhaltensgrundsätze zum Umgang von Polizei und Medien verabschieden würde, die der Presserat vorgelegt hat.
Das wäre eine gute Grundlage für die Ausbildung und Schulung von Polizei und Medienschaffenden. In der mittel- und langfristigen Perspektive ist generell eine massive staatliche Unterstützung von Medienkompetenzkunde nötig: Jedes Kind muss wissen, was eine verlässliche Quelle ist, worin sich Information und Meinung unterscheiden, wie Desinformation funktioniert.
Informationskonfetti gibt es genug, die wichtigste Aufgabe ist, unabhängigen, investigativen und ernsthaften Qualitätsjournalismus zu ermöglichen. Dafür muss man viel tun: Medienschaffende müssen physisch und psychisch geschützt, fair bezahlt und als systemrelevant verstanden werden. Der Medienmarkt braucht Innovationen. Staaten, die heimische Medien manipulieren und unterwerfen, um Kritik auszutrocknen, wie das zum Beispiel in Ungarn der Fall ist, müssen sanktioniert werden.
Kurzfristig wären wir beim Europäischen Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) schon froh, wenn Deutschland endlich die Whistleblower-Direktive der EU zum Schutz von Informanten und Hinweisgebern umsetzt und sich bei der Umsetzung der neuen Direktive gegen missbräuchliche Klagen nicht so viel Zeit lässt.
tagesschau.de: Wie ist die Lage in anderen EU-Ländern, in Ungarn, Polen oder etwa auch Irland, etwa im Zusammenhang mit "SLAPP"-Cases, also den bereits zuvor angesprochenen missbräuchlichen Klagen?
Kinkel: "SLAPP", das steht für "Strategic lawsuit against public participation". Missbräuchliche Klagen, um Medienschaffende mundtot zu machen, gibt es überall und auf jedem Level. Wir haben auf einer Konferenz gerade den Fall des Leipziger Studentenmagazins "Luhze" diskutiert, das von einem Immobilienentwickler juristisch bedroht wurde, weil diesem ein Artikel nicht gefiel. Es gibt auch große, prominente Fälle in Deutschland, etwa Solar Millenium gegen die "Süddeutsche Zeitung".
In Polen haben wir viel mit der "Gazeta Wyborzca" zu tun, einer kritischen, unabhängigen Tageszeitung. Sie muss sich gegen mehr als 60 Klagen wehren, die von der PIS-Regierung oder regierungsnahen Firmen angestrengt werden.
Das kostet Geld, Zeit und Ressourcen - und genau das ist das Ziel der Kläger. Wie gefährlich SLAPPs sind, hat die breitere europäische Öffentlichkeit eigentlich erst nach dem Mord an der maltesischen Investigativ-Journalistin Daphne Caruana Galizia verstanden. Die Familie kämpft bis heute gegen Verleumdungsklagen, die nur darauf angelegt sind, sie zum Schweigen zu bringen. Umso wichtiger ist, dass wir jetzt die Anti-SLAPP-Direktive der EU-Kommission haben.
Lutz Kinkel ist Geschäftsführer des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit. Das ECPMF koordiniert unter anderem das europäische Unterstützungsprogramm "Media Freedom Rapid Response". Dabei wird der Status der Pressefreiheit in der EU und in EU-Kandidatenländern beobachtet und auf mappingmediafreedom.org veröffentlicht. Das ECPMF liefert auch Unterstützung wie kurzfristige Hilfe zum Lebensunterhalt über den Ersatz von Equipment bis zu Prozesskostenhilfe.
tagesschau.de: Wie ist die Lage in der Ukraine?
Kinkel: Es ist apokalyptisch, was in der Ukraine passiert. Aber es gibt auch enorme Solidarität. In wenigen Wochen konnten wir die Kapazitäten unseres Journalists-in-Residence-Programms mehr als verdoppeln, um verfolgte und bedrohte Medienschaffende aufzunehmen.
Der Freistaat Sachsen, die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien Claudia Roth (Grüne) und die US-Organisation National Endowments for Democracy haben schnell und unbürokratisch Budgets bereitgestellt. Sachsens Medienminister Oliver Schenk (CDU) besuchte uns kürzlich für einen Austausch mit den ersten ukrainischen Journalistinnen, die in Leipzig angekommen waren. Sie berichteten, wie sie bedroht wurden, wie ihnen klar wurde, dass sie auf russischen Fahndungslisten stehen, wie sie fliehen mussten und wie sie jetzt zurechtkommen. Da ist so viel Leid und Mut, dass wir alle ziemlich still wurden.
tagesschau.de: Zum Internationalen Tag der Pressefreiheit: Gibt es zu dem Thema nur schlechte Nachrichten oder auch mal nennenswerte positive?
Lutz Kinkel: Die derzeitige Krise der Presse- und Medienfreiheit - Gewalt gegen Medienschaffende, die Unterdrückung von Kritik, sogar Morde - triggert auch Gegenmaßnahmen, jedenfalls in demokratisch orientierten Gesellschaften. Die EU-Kommission etwa hat im September 2021 Empfehlungen zum Schutz von Journalistinnen und Journalisten veröffentlicht und kürzlich eine Direktive vorgestellt, die Medienschaffende vor missbräuchlichen Klagen schützen soll. Im dritten Quartal 2022 will sie den Vorschlag für ein Medienfreiheitsgesetz vorlegen. Mit anderen Worten: Das Thema ist auf der Agenda weiter nach oben gerückt und das wurde auch höchste Zeit.
Das Gespräch führte Kristian Schulze, MDR