Lindner zur "D-Day"-Affäre "Natürlich musste und muss ich mich prüfen"
Nach der Veröffentlichung des "D-Day"-Papiers hat FDP-Chef Lindner Fehler eingeräumt. Der Rücktritt von Generalsekretär Djir-Sarai sei ein "schmerzhafter Verlust", sagte er in den tagesthemen. Auch er selbst stecke in einer "schwierigen Situation".
tagesthemen: Herr Lindner, was ist los in einer Partei, in der der Chef nicht weiß, was die engsten Vertrauten machen?
Lindner: Ich trage die Gesamtverantwortung für die FDP - und zu der bekenne ich mich auch. Ich verantworte die politische Grundentscheidung. Und diese Grundentscheidung war, dass wir im "Herbst der Entscheidungen", wie ich es genannt habe, einen Politikwechsel für Deutschland erreichen - oder Neuwahlen voranbringen wollten. Unser Ziel war eine Wirtschaftswende, die Arbeitsplätze schafft. Unser Ziel war ein Haushalt mit Schuldenbremse und mehr Konsequenz bei der Migration. Und das wollten wir in der Ampel erreichen - oder waren bereit und wollten gemeinsame Neuwahlen herbeiführen. Dafür trage ich die Gesamtverantwortung.
tagesthemen: Aber für dieses Papier mit dem Titel "D-Day" und mit dem Begriff "offene Feldschlacht" - dafür nicht. Oder auch dafür?
Lindner: Zu der Gesamtverantwortung gehört, dass wir alle Szenarien intensiv durchdacht haben. Mein Szenario, meine Angebote an Olaf Scholz waren ja gemeinsame Neuwahlen als Koalition oder Politikwechsel. Aber auch alle anderen Optionen wurden durchgespielt. Das Papier ist auf einer Arbeitsebene entstanden und ich will mich hier ausdrücklich vor die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellen. Die haben nach bestem Wissen und Gewissen ein Papier erarbeitet, das freilich nicht überzeugend ist und das auch deshalb bei uns intern in politischen Gremien nie besprochen worden ist. Es ist überhaupt ja in die Öffentlichkeit geraten durch Indiskretionen und Durchstechereien. Es war nie für politische Beratung gedacht.
"Unsere internen Prozesse waren fehlerhaft"
tagesthemen: Diese Mitarbeiter haben ein Papier in Kriegssprache verfasst. Und wenn Sie sagen: Das ist nur auf Mitarbeiterebene geschehen, dann fragt man sich: Was ist denn jetzt los? Warum müssen dann zwei führende Köpfe gehen? Warum müssen die zurücktreten, wenn das alles gar nicht so wild ist?
Lindner: Das ist ein ganz schmerzhafter Verlust. Zwei großartige Kollegen, mit denen ich auch persönlich sehr gerne und freundschaftlich zusammengearbeitet habe. Aber es ist ein Fehler passiert. Denn aufgrund der von mir angesprochenen Indiskretionen und Durchstechereien dieser Papiere nach dem Ampel-Aus hat sich gezeigt, dass unsere internen Prozesse und auch die Kommunikation nach außen fehlerhaft waren.
tagesthemen: Wer hat es denn durchgestochen?
Lindner: Das weiß man nicht. Aber eins weiß ich: Diese zwei Kollegen haben sehr honorig politische Verantwortung dafür übernommen, für die Prozessfehler und die mangelnde Kommunikation. Aber ich will noch einmal ausdrücklich sagen: Das müssen die Bürgerinnen und Bürger wissen, ich trage die Verantwortung. Politikwechsel im Herbst oder Neuwahl - das war mein Ziel. Und zu diesem Ziel stehe ich auch. Eine Fortsetzung der Stillstands-Ampel angesichts der Wirtschaftskrise über den Herbst hinaus hätte es in keinem Fall gegeben. Und danach lasse ich mich auch politisch beurteilen.
"Wir haben ja alle Szenarien intensiv durchdacht"
tagesthemen: Da würde der Kanzler sagen, auch er habe mehrere Szenarien gehabt und nicht nur eines oder zwei. Ich möchte mal auf einen honorigen Mitarbeiter zu sprechen kommen...
Lindner: Das wissen wir ja...
tagesthemen: Darf ich das...
Lindner: ... das wissen wir inzwischen ja. Denn als dieses Papier von Mitarbeitern geschrieben worden ist, da wurde ja zeitgleich an drei Rede-Entwürfen im Kanzleramt geschrieben. Offensichtlich haben sich alle vorbereitet. Aber mein Angebot ist ein anderes, als in dem Papier beschrieben ist: nämlich gemeinsam als Koalition vor die Wählerinnen und Wähler zu treten...
tagesthemen: Das ist nun etwas, das Sie schon häufig geäußert haben, und auch jetzt bekommen Sie wieder die Chance dazu. Ein honoriger Mitarbeiter von Ihnen, der an diesem Papier, an diesem Entwurf auf Mitarbeiterebene mit dem Namen "D-Day" gesessen hat, ist Carsten Reimann, der Bundesgeschäftsführer, der jetzt zurückgetreten ist - Ihr enger Vertrauter, Ihr früherer Büroleiter. Wie kann es sein, dass Sie nichts von etwas gewusst haben, an dem Ihr engster vertrauter Mitarbeiter gesessen und gearbeitet hat?
Lindner: Wir haben ja alle Szenarien intensiv durchdacht, und es gehört zu professionell arbeitenden Mitarbeitern, dass sie auch eigeninitiativ arbeiten. Das ist auch richtig so, da stelle ich mich ausdrücklich vor alle, die daran beteiligt waren. Denn die haben ja auch die Grundentscheidung umgesetzt: Politikwechsel oder Neuwahl. Hätten wir uns nicht verständigt auf eine....
tagesthemen: Herr Lindner, entschuldigen Sie. Das habe ich jetzt wirklich verstanden.
Lindner: Ja, aber ich beantworte doch nur Ihre Frage.
tagesthemen: Nein, Sie wiederholen meine dritte Frage mit derselben Antwort, nämlich mit Ihren Szenarien. Das habe ich durchaus verstanden.
Lindner: Wenn sich der Sachverhalt nicht ändert, kann sich ja auch die Antwort nicht ändern.
tagesthemen: Aber ich habe ja mehrere verschiedene Fragen gestellt.
Lindner: Ja, aber das Papier ist... das ist eben die Antwort auf Ihre Frage. Sie variieren die Frage, aber trotzdem bleiben ja die Fakten dieselben.
tagesthemen: Nee, komm. Ich habe eine gute Frage. Und zwar: Das Papier ist entstanden auf professionelle Art und Weise, wie Sie sagen. In Kriegssprache - ist das professionell? D-Day? Die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus mit Zehntausenden Toten?
Lindner: Darf ich bitte antworten? Das ist natürlich stilistisch nicht überzeugend. Und das Papier selbst hätte meine Billigung nicht gefunden. Aber es war eben auch nur ein Arbeitspapier, und es war niemals Gegenstand von Gremien. Es ist dann in die Öffentlichkeit geraten durch Indiskretionen. Das bedaure ich zutiefst, weil hier ein ganz falscher Eindruck von der FDP und ihren Motiven entstanden ist. Uns ging es um unser Land. Eine Ampel, die für Stillstand steht, konnten wir nicht fortsetzen. Wir wollten inhaltliche Veränderungen oder den Weg für Neuwahlen freimachen.
"Ich bin eines der Gesichter der gescheiterten Ampelkoalition"
tagesthemen: Und Sie kannten dieses Papier nicht. Der Mitarbeiter war nicht diskret genug, es Ihnen vielleicht zu geben, dem Chef der Partei?
Lindner: Ich habe das nicht zur Kenntnis genommen, ich hätte es nicht gebilligt. Und im Übrigen sprechen ja die Taten für sich. Denn ich habe Olaf Scholz, bevor dieses Papier, wie wir jetzt wissen, fertiggestellt worden ist, ja bereits ein anderes Modell angeboten, nämlich im Falle einer Nicht-Einigung gemeinsam herbeigeführte Neuwahlen. Die historischen Fakten entsprechen also auch nicht diesem Papier, das ja eben erst Anfang November entstanden oder fertiggestellt worden ist - zu einem Zeitpunkt, als es längst einen anderen Prozess gab.
tagesthemen: Und es geht um Glaubwürdigkeit. Es geht um Deutungshoheit. Und man merkt Ihnen ja auch an, wie sehr Sie darum kämpfen. Ihre engsten Mitarbeiter sind gerade zurückgetreten heute. Was ist mit Ihnen?
Lindner: Natürlich musste und muss ich mich prüfen. Ich bin immerhin eines der Gesichter der gescheiterten Ampelkoalition. Und ich stecke jetzt mit meiner Partei auch in dieser äußerst schwierigen Situation. Aber ich glaube, dass die politische Entscheidung, die ich verantworte, unverändert richtig ist. Diese Entscheidung war: Es muss eine andere Politik geben - oder die Wähler müssen neu wählen. Und diese politische Entscheidung, die war und ist richtig. Und deshalb werde ich meiner Partei ja auch das Angebot machen, sie in den nächsten Bundestagswahlkampf zu führen.
"Das muss aufgearbeitet werden"
tagesthemen: So, und jetzt geht es um die Wähler. Es geht aber auch um die Leute aus der eigenen Partei. Es gibt Stimmen, die sagen: Wir brauchen Aufarbeitung, die Tonalität war falsch. Es gibt Stimmen, die sagen: "Ich wurde getäuscht" - von den Jungen Liberalen. Was, wenn sich noch mehr Leute abwenden?
Lindner: Die Jungen Liberalen wenden sich ja nicht ab, sondern sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass es Fehler gegeben hat. Die Fehler lagen zum einen in der Anlage und dem Stil dieses Papiers. Das entspricht nicht den Anforderungen an uns selbst und deshalb werden wir das aufarbeiten. Und deshalb bedaure ich auch, dass dieses Papier in dieser Form öffentlich geworden ist, dass es so verfasst worden ist. Das muss aufgearbeitet werden. Ausdrücklich sage ich aber noch mal, dass sich Mitarbeiter mit der Frage beschäftigt haben. Das entsprach der politischen Gesamtanlage des Herbstes. Entweder oder. Wir sprachen darüber.
Und zum anderen gab es diese Prozessfehler, diese Fehler in der Krisenkommunikation nach den Durchstechereien, und dadurch wurde auch fehlerhaft kommuniziert. Auch das bedaure ich sehr, denn dadurch ist nicht nur öffentlich ein falscher Eindruck entstanden, sondern auch ein sehr verdienter Generalsekretär hat politische Verantwortung übernehmen müssen für diese Fehler. Das schmerzt mich sehr.
Das Gespräch führte Jessy Wellmer für die tagesthemen. Das Interview wurde zur besseren Lesbarkeit leicht redigiert.