Politikwissenschaftler analysiert Bundestagswahl "Ein historischer Einschnitt"
Die Union ist stark wie lange nicht, der Koalitionspartner FDP erstmals nicht mehr im Bundestag. Politikwissenschaftler Holtmann spricht im Interview mit tagesschau.de von einem historischen Einschnitt. Dass Spitzenkandidat und Parteichef zurücktreten, sei "mehr als selbstverständlich".
tagesschau.de: Die FDP ist aller Voraussicht nach nicht mehr im Bundestag - zum ersten Mal seit der Gründung der Partei. Wie gravierend ist dieses Ergebnis?
Everhard Holtmann: Das ist ein historischer Einschnitt in der deutschen Parteiengeschichte, gerade wenn man langfristige Entwicklungen betrachtet. Die FDP gehört seit der Gründung der Bundesrepublik dem deutschen Bundestag an. Dieser Einschnitt ist vergleichbar mit dem Einzug der Grünen vor 30 Jahren in den Bundestag. Der Aufstieg der Grünen kam damals übrigens über die Länderparlamente. Bei der FDP ist dieser Prozess umgekehrt. Sie ist aus immer mehr Länderparlamenten heraus geflogen und gehört nach jetzigem Stand wohl nur noch einer einzigen Landesregierung, nämlich in Sachsen, an.
tagesschau.de: Was sind die Gründe für das desaströse Abschneiden?
Holtmann: Die FDP hat ihre Rolle als kleiner Koalitionspartner, der immer ein inhaltliches Korrektiv für die größere Volkspartei sein muss, aufgegeben. Sie hat sich programmatisch nicht von der Union abgesetzt und ihr eigenes Profil verloren. Wofür die FDP steht, ist zunehmend unklar. Und das gipfelte dann in der vergangenen Woche in der völlig verzweifelten, am Wahlrecht vorbei gehenden Zweitstimmen-Kampagne. Wenn es die FDP nicht wieder schafft, sich als programmatisches Korrektiv zu profilieren, wird sie politisch bedeutungslos bleiben.
"Die FDP muss sich neu erfinden"
tagesschau.de: Der FDP-Vorsitzende von Nordrhein-Westfalen, Christian Lindner, sagt, ab morgen müsse die FDP neu gedacht werden. Hat er Recht?
Holtmann: Klar ist, es reicht jetzt nicht, personelle Konsequenzen zu ziehen. Dass Spitzenkandidat Rainer Brüderle und Parteichef Philipp Rösler nach dem heutigen Desaster zurücktreten, ist mehr als selbstverständlich. Aber die Partei muss nichts Geringeres schaffen, als sich neu zu erfinden und ihren Platz im Parteiensystem wieder neu suchen.
tagesschau.de: Auch die Grünen haben stark verloren, woran lag das?
Holtmann: Auch die Grünen konnten ihre Themen nicht vermitteln und sich nicht ausreichend gegenüber ihrem potenziellen Koalitionspartner SPD profilieren. Wir haben den Trend, dass - entgegen aller früheren Prognosen - die großen Volksparteien wieder zulegen können. Es gibt also keine zunehmende Zersplitterung der Parteienlandschaft und Erosion der großen Parteien, sondern im Gegenteil: Die beiden Volksparteien sind stärker geworden und haben zusammen wieder gut zwei Drittel aller Stimmen.
tagesschau.de: Weder in Hessen noch auf Bundesebene sind die klassischen Kombinationen Schwarz-Gelb oder Rot-Grün möglich. Werden die Karten politisch langfristig neu gemischt?
Holtmann: Für neue Bündnisse ist es noch zu früh. Es wird weder Rot-Rot-Grün geben, noch halte ich Schwarz-Grün für sehr wahrscheinlich. Wenn die Union nicht allein regieren kann, läuft alles auf eine Große Koalition hinaus.
tagesschau.de: Warum ist Schwarz-Grün politisch so schwer umsetzbar?
Holtmann: Es gibt wichtige inhaltliche Differenzen - zum Beispiel in der Steuer- und der Familienpolitik. Die Grünen haben die Weichen im Wahlkampf eindeutig in eine andere Richtung gestellt. Auch der Ton in der Kampagne ist zwischen beiden Parteien in den vergangenen Wochen sehr scharf geworden. Das war nicht gerade dazu angetan, Vertrauen aufzubauen. Die Basis der Union, vor allem aber auch der Grünen würde sich schwer tun mit Schwarz-Grün. Und bei den Grünen ist das basisdemokratische Element besonders stark. Für die Union hätte Schwarz-Grün natürlich den Charme, dass man da mehr Regierungspersonal stellen könnte als in einer Großen Koalition.
"Die Union hatte vor allem eine Botschaft: Angela Merkel"
tagesschau.de: Die Union fährt eines der besten Ergebnisse der Geschichte ein. Hat Bundeskanzlerin Angela Merkel also alles richtig gemacht?
Holtmann: Die Union hat ganz auf Merkels Popularität gesetzt - und war damit erfolgreich. Es gab bisher ein fast ehernes Gesetz der Wahlforscher. Am wichtigsten für den Erfolg einer Partei ist die ihr zugeschriebene Problemlösungskompetenz, dann kommt lange nichts, dann kommt das Personal und zum Schluss die längerfristige Parteienidentifikation. Das müssen wir angesichts des Erfolgs der Union überdenken. Denn der ist vor allem der Kanzlerin zuzuschreiben und liegt vielleicht gerade darin begründet, dass die Union vor allem eine Botschaft hatte, nämlich: Angela Merkel.
tagesschau.de: Wir haben eine höhere Wahlbeteiligung als vor vier Jahren, obwohl es kein packendes Wahlkampfthema gab. Wie ist die Mobilisierung zu erklären?
Holtmann: Es zeichnete sich ab, dass es für Schwarz-Gelb knapp werden würde. Das hat die Wahlbereitschaft in den vergangenen Wochen angefeuert. Ich bin sehr froh über diese Entwicklung, zumal es ja die Äußerungen von einigen selbsterklärten Intellektuellen gab, nicht wählen zu gehen. Ich fand dies verantwortungslos und bin als überzeugter Demokrat erfreut, dass diese Kampagne nicht gefruchtet hat.
"AfD - eine Partei mit hohem Protestpotenzial"
tagesschau.de: Die AfD schafft es vielleicht in den Bundestag. Ist das ein Protestsignal oder ernstzunehmende Politik?
Holtmann: Interessant ist, dass die AfD offenbar viele Stimmen von der FDP bekommen hat. Das kann darauf hindeuten, dass die FDP in der Kontroverse um den richtigen Euro-Kurs viele Wähler verloren hat rund um den eurokritischen Kurs des Finanzexperten Frank Schaeffler. Die AfD hat aber auch Stimmen von der Linkspartei gewonnen. Und das deutet eben doch darauf hin, dass es sich hier um Protestwähler handelt. Die AfD ist derzeit eine Ein-Themen-Partei mit hohem Protestpotenzial. Sie müsste sich politisch breiter aufstellen, um längerfristig eine Chance zu haben in der deutschen Parteienlandschaft.
Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de.