Neuer Bundestag "Die Debattenkultur wird sich ändern"
Größer, jünger, bunter - der neue Bundestag ist anders. Auch das bisherige Machtgefüge im Parlament ändert sich - mit Folgen, wie Politologin Kropp im tagesschau.de-Interview erläutert.
tagesschau.de: Der Bundestag ist größer denn je, welche Auswirkungen hat das für die parlamentarische Arbeit? Oder wird sich eher nichts ändern?
Sabine Kropp: Wird ein Parlament größer, wird es nicht unbedingt schlagkräftiger - das kann man ganz allgemein so sagen. Die kleineren Fraktionen könnten aber Vorteile daraus ziehen: Wenn sie mehr Abgeordnete haben, können sie in den Ausschüssen intensiver mitwirken. Für sie bedeutet dies also eventuell eine verbesserte Arbeitsfähigkeit, aber insgesamt ist eine größere Organisation nicht notwendig schlagkräftiger.
Kommunikation wird komplizierter
tagesschau.de: Warum beeinträchtigt der Faktor Größe die Schlagkraft?
Kropp: Die Koordinierung innerhalb der Fraktionen wird tendenziell schwieriger, die Größe der Fachausschüsse wächst auch an. Mit der wachsenden Anzahl von Personen wird die Kommunikation komplizierter, gerade wenn man inhaltlich Vorlagen der Regierung diskutieren und gegebenenfalls verändern will. Es wächst die Gefahr, dass die Positionsbestimmung des Ausschusses schon durch die vorbereitenden Arbeitskreise der Fraktionen vorweggenommen wird - und man im Ausschuss kaum noch sachbezogen diskutiert, sondern sich die Regierungsfraktionen gegenüber der Opposition einfach per Mehrheit durchsetzen.
tagesschau.de: Auch die Größenverteilung der sechs Parteien im Bundestag ist neu. Die zwei Großen wurden deutlich kleiner, die Kleinen zum Teil größer - ändert das etwas am bisherigen Machtgefüge im Parlament und die Art wie man miteinander spricht?
Kropp: Die Größenunterschiede zwischen den Parteien haben deutlich abgenommen und die Mittelgroßen an Selbstbewusstsein und an relativer Stärke im Parlament hinzugewonnen. Da kann man schon davon ausgehen, dass sich das in einer Debattenkultur niederschlägt, in der die beiden kleinen beziehungsweise mittelgroßen Parteien Grüne und FDP selbstbewusster gegenüber SPD und CDU auftreten - auch innerhalb einer Ampel-Koalition.
Wer sitzt neben der AfD?
tagesschau.de: Die AfD verliert in jedem Fall ihre Rolle als größte Oppositionsfraktion und muss sich in dem Gefüge neu finden. Sehen Sie da eher eine Marginalisierung oder potenziell eine Radikalisierung dieser Partei?
Kropp: Die AfD hat bisher mit antiparlamentarischem Verhalten den Parlamentsbetrieb in der vergangenen Legislaturperiode geprägt. Und mit dem Einzug der neuen Abgeordneten und der Stärkung ihres rechtsextremen Flügels in den vergangenen Jahren kann man sicherlich davon ausgehen, dass dieses antiparlamentarische Verhalten eher einen Schub bekommt - eher als dass man einen Prozess der Angleichung im Sinne einer Integration in den parlamentarischen Betrieb annehmen könnte.
tagesschau.de: Die FDP will nicht mehr neben der AfD sitzen - kann man das auch sinnbildlich dafür sehen, dass der Kampf um die politische Mitte des Parlaments und der Wählerschaft größer wird?
Kropp: Die Bilder, die von den Medien aus dem Parlament gesendet werden, sind ja sehr wirkmächtig. Insofern kann man verstehen, dass auch die Opposition und die vermutlichen Regierungsparteien wie die FDP nicht neben der AfD Platz nehmen möchten. Das ist auf der einen Seite in der Praxis als äußerst unangenehm beschrieben worden, gerade von weiblichen Abgeordneten - die häufig mit Bemerkungen überzogen wurden, die dem "Hohen Haus" nicht angemessen sind. Auf der anderen Seite möchte man nicht mit einer antiparlamentarischen Fundamentalopposition in Verbindung gebracht werden.
tagesschau.de: In den zurückliegenden Corona-Monaten war die Exekutive, also die Runden der Ministerpräsidenten mit der Regierung, stärker im Fokus. Wird der Parlamentarismus jetzt wieder stärker werden?
Kropp: Zum einen erlischt der Paragraf 126a ("Besondere Anwendung der Geschäftsordnung aufgrund der allgemeinen Beeinträchtigung durch COVID-19") der Geschäftsordnung des Bundestages, demzufolge es möglich war, dass ein Viertel der Abgeordneten die Beschlussfähigkeit des Bundestages herstellen konnten. Wenn er ausläuft und nicht erneuert wird, ist es auch den neu gewählten Abgeordneten einfacher möglich, in den Parlamentsbetrieb sozialisiert zu werden. Das ist für die Funktionsfähigkeit des neuen Bundestages unverzichtbar: Neugewählte, die nur online zugeschaltet werden können, sind nicht in der Lage, sich in den Parlamentsbetrieb einzubringen und ein starkes Parlament zu bilden. Ich gehe davon aus, dass der neue Bundestag diesen Paragrafen nicht erneuern wird.
Nur dann schafft man die Voraussetzungen für ein kraftvolles Auftreten des Bundestages, aber die Möglichkeiten müssen auch von den Abgeordneten genutzt werden.
Neuer Stil mit einem Kanzler Scholz?
tagesschau.de: Sollte Olaf Scholz tatsächlich Kanzler werden, könnte mit ihm ein neuer Stil einziehen? Merkel war ja eher sparsam, was die Parlamentsbeteiligung und Fragestunden angeht …
Kropp: Das ist offen. Man kann zumindest sagen, dass Scholz als Teil der alten Regierung diesen Stil mit geprägt hat. Man könnte die Geschäftsordnung des Bundestages natürlich durch umfassendere Fragestunden oder ähnliche Elemente verändern, aber dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Falls eine Ampel-Koalition ins Amt käme, wäre die CDU/CSU-Fraktion die starke Oppositionspartei, die sich als Gegenspieler zur amtierenden Regierung profilieren will. Dann lautet die Frage, inwieweit sich eine Ampel-Regierung einer intensiveren Debatte und Befragung durch eine starke Opposition aussetzen möchte - und damit vielleicht auch der AfD weitere Plattformen bietet, gegenüber der Öffentlichkeit mit Polemik und Fundamentalopposition aufzutreten.
Ein neuer Stil wird auch davon abhängen, wie sich die Union in der Opposition profilieren wird und wie sie nach 16 Jahren Regierungszeit diese für sie wirklich völlig neue Rolle annimmt.
Das Interview führte Corinna Emundts, tagesschau.de