interview

Erstwähler vor der Bundestagwahl "Für viele ist Politik eine Blackbox"

Stand: 09.09.2013 14:02 Uhr

Bei der Bundestagswahl am 22.September dürfen rund drei Millionen junge Menschen zum ersten Mal ihre Stimme abgeben. Doch der Wahlkampf komme bei vielen Erstwählern nicht an, erklärt Lukas Kiepe, selbst Jungwähler, im Interview mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Wissen Sie, wann in diesem Jahr der Deutsche Bundestag neu gewählt wird?

Lukas Kiepe: Ja, am 22. September.

Zur Person
Lukas Kiepe ist 21 Jahre alt und darf in diesem Jahr zum ersten Mal an die Wahlurne. Der Lehramtsstudent aus Kassel hat sich intensiv mit der Sprache der Politiker auseinandergesetzt - und ihnen eine abgehobene und unverständliche Ausdrucksweise bescheinigt.

tagesschau.de: Viele Ihrer Altersgenossen wissen das offenbar nicht. Laut einer jüngsten Studie des "Stern“ konnten nur 46 Prozent der 18- bis 29-Jährigen diese Frage richtig beantworten. Warum haben Jungendliche scheinbar kein Interesse an Politik?

Kiepe: Ich glaube schon, dass sich junge Menschen für Politik interessieren. Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung sagen etwas über 80 Prozent der befragten Jugendlichen im Alter von 16 bis 19 Jahren, dass es wichtig ist, sich mit Politik zu beschäftigen. Ganz so politikverdrossen sind wir nicht. 66 Prozent sagen aber, dass es unglaublich aufwändig ist, sich in politische Themen hineinzuversetzen. Man versteht nicht alles, dann kommen schon wieder neue Themen auf. Für viele Jugendliche ist Politik eine Blackbox.

tagesschau.de: Gemeinsam mit ihrem Freund Johannes Neumann haben Sie das Projekt „Sprache und Politik“ ins Leben gerufen. Ausgangspunkt war die von Ihnen genannte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Demnach glauben viele Jugendliche, dass Politiker absichtlich eine gehobene Sprache sprechen.

Kiepe: Wenn man beispielsweise Frau Merkel reden hört, versteht man nicht immer sofort, was sie eigentlich meint. Wir haben während eines Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) bei der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg im Bereich der gesellschaftspolitischen Jugendbildung gearbeitet. Mit dem Projekt wollten wir von Schülern erfahren, was sich an Politik ändern sollte. Dazu haben wir zwei zehnte Gymnasialklassen aus Halle und Wittenberg eingeladen. Gemeinsam haben wir in Workshops darüber nachgedacht, wo die Probleme liegen.

TV-Tipp
"Flexibel, befristet, ignoriert - Jungwähler im Abseits" ist das Thema der #wahlschau am Sonntag, 8.9. um 18.50 Uhr auf tagesschau.de und tagesschau24.

tagesschau.de: Welche Probleme sind Ihnen dabei aufgefallen?

Kiepe: Die Schüler fanden viele Dinge unverständlich. Für einen Finanzminister ist es beispielsweise ganz normal in den Nachrichten von der kalten Progression zu sprechen. Wer aber nicht weiß, was eine kalte Progression ist, wird wahrscheinlich die Nachrichten ausschalten. Durch die vielen Fremdwörter und verschachtelten Sätze weiß man am Ende gar nicht mehr, was der Politiker am Anfang gesagt hat.

Ich glaube auch, dass Politiker ein schlechtes Image haben. Das zeigen ja auch Umfragen. Jung- und Erstwähler erwarten grundsätzlich, dass Politik auf sie zukommt. Sie wollen sich nicht viel Mühe machen, sich mit Politik zu beschäftigen.

tagesschau.de: Was müsste passieren, damit sich Jugendliche mehr für Politik interessieren?

Kiepe: Junge Menschen haben ja schon verstanden, dass Politik wichtig ist. Jetzt muss man ihnen noch das Gefühl geben, dass sie mitentscheiden können. Durch die Wahl können Erstwähler mitentscheiden, allerdings beginnt der Politikunterricht häufig schon bevor sie überhaupt wahlberechtigt sind.

tagesschau.de: Eine Möglichkeit wäre, das Wahlalter auf 16 Jahre herabzusetzen. Nicht alle halten das für sinnvoll. In Hamburg haben sich sogar zwei Schüler öffentlich dagegen ausgesprochen. Sie befürchteten, dass ihre Altersgenossen extreme Parteien wählen könnten und ihnen das nötige Verantwortungsgefühl fehle.

Kiepe: Ich finde dieses Argument vollkommen falsch. Willkürliche Wahlentscheidungen findet man auch woanders, das kann man nicht unbedingt den Jugendlichen vorwerfen. Mit dieser Begründung müsste man jedem Bürger, der seine Wahlentscheidung nicht begründen kann, das Wahlrecht entziehen. Um ein dauerhaftes und langfristiges Interesse an Politik zu entwickeln, muss das Wahlalter gesenkt werden. Nur wer wählen kann, hat auch Interesse. Deshalb war die Absenkung des Wahlalters auch die zentrale Forderung der Schülerinnen und Schüler aus unseren Workshops.

tagesschau.de: Sie dürfen in diesem Jahr bei der Bundestagswahl und bei der Landtagswahl in Hessen erstmals Ihre Stimmen abgeben. Wie nehmen Sie den aktuellen Wahlkampf wahr?

Kiepe: Ich finde ihn ein wenig einschläfernd. Die Wahlplakate der Parteien sind austauschbar. Ich möchte einen Grund, warum ich eine Partei wählen soll. Den bekomme ich durch die Plakate aber nicht. Das stört mich. Als angehender Politiklehrer schaue ich mir gezielt Parteiprogramme an. Jugendliche, die mit ihren Freunden online bei Facebook abhängen, kriegen den Wahlkampf gar nicht mit. Man kann sich dem gut entziehen.

tagesschau.de: Wissen Sie schon, was Sie am 22. September tun werden?

Kiepe: Ich werde wählen gehen. Abends setze ich mich vielleicht mit Freunden zusammen und schaue mir die Hochrechnungen an. Ich kann mir nicht vorstellen, nicht wählen zu gehen.

Das Interview führten Martin Motzkau und Max Hollmeier für tagesschau.de.

Zu sehen ist die #wahlschau am 08. September von 18:50 bis 19:20 Uhr im Livestream auf tagesschau.de und im Fernsehen bei tagesschau24.