Grüne nach der Berlin-Wahl Der nervige Kampf um Platz zwei
In Berlin beginnen die Sondierungen des Wahlsiegers CDU - auch mit den Grünen. Ob sie pro forma stattfinden oder ernsthaft, ist offen. Aber: Vorboten für die Bundespolitik werden sichtbar.
Eines der Markenzeichen der derzeitigen Grünen-Ära ist die bemerkenswerte Geschlossenheit der Partei, seit Robert Habeck und Annalena Baerbock das Ruder übernommen haben - auch ihre Nachfolger Ricarda Lang und Omid Nouripour bemühen sich redlich darum. Und doch: Seit die Stimmzettel der wiederholten Berlin-Wahl ausgezählt sind, wird in der Partei kontrovers diskutiert wie schon lange nicht mehr - und das nicht nur auf Landesebene. Denn ein neues schwarz-grünes Bündnis steht im Raum. Die Grüne Jugend in Berlin meldet schon "Aufstand" an, sollte es dazu kommen.
Das ist mehr als nur eine Gespensterdebatte, denn die Grünen regieren zwar im Bund derzeit mit Wunschkoalitionspartner SPD, jedoch in den Ländern bereits vielfach recht geschmeidig mit der Union. Und liest man beim CDU-Wahlsieger Kai Wegner zwischen den Zeilen, gibt es auch dort eine Offenheit dafür: Sein Ziel sei eine stabile Koalition, die Spaltung von Stadtrand gegen Innenstadt, "Auto gegen Fahrrad, Mieter gegen Vermieter" überwinden will.
Ein solches Bündnis könnte einen "breiten Dialog einer Stadtgesellschaft mit ja sehr kontroversen Interessen" organisieren - es lohne sich, das Bündnis ernsthaft zu sondieren - es gibt grüne Stimmen in Berlin, die das so sehen; wenn auch eine Minderheit im links tickenden Landesverband.
Zwischen Jubel und Selbstkritik
Die SPD steht in der Hauptstadt mit Spitzenkandidatin Franziska Giffey und dem historisch schlechtesten Wahlergebnis der Partei extrem geschwächt da. Deswegen gibt es nun auch Stimmen bei den Grünen, die davor warnen, Steigbügelhalter für die SPD erneut innerhalb eines rot-grün-roten Bündnisses zu sein, das rein rechnerisch weiter über eine Mehrheit verfügt.
Und es hagelt intern Selbstkritik: Schließlich konnten auch die Grünen sich gerade mal knapp auf dem alten Ergebnis von 18 Prozent halten, obwohl Spitzenkandidatin Bettina Jarasch erneut mit dem Anspruch angetreten war, die Hauptstadt regieren zu wollen.
Schon bei der Deutung des Ergebnisses fängt die grüne Kontroverse an: Während die Fans am Wahlabend um Spitzenkandidatin herum über das Ergebnis doch noch jubeln konnten, kommen aus dem Landesverband wie auf Bundesebene auch zerknirschtere Töne. Unter zwanzig Prozent in einer derart bunten, vielfältigen Metropole zu bleiben - das könne nicht sein, sagen die parteiinternen Kritikerinnen und Kritiker. Da müsse mehr drin sein. Wollte man nicht links-mittige Volkspartei werden?
Wo die Partei nicht punkten kann
Denn die Grünen gelten als Großstadtpartei, die bei bürgerlicher, gebildeter, liberaler Klientel weit in die Mitte der Wählerschaft punkten kann. Sie dürften in Berlin mit der seit 2011 nicht geweiteten Grünen-Nische eigentlich nicht mehr zufrieden sein.
Intern wird die Stadt Köln als Vergleich herangezogen. Bei der Landtagswahl vergangenes Jahr konnten die Grünen dort 30,6 Prozent der Zweistimmen gewinnen - in Hamburg waren es 24,2 Prozent bei der Bürgerschaftswahl 2020 und 24,9 Prozent bei der Bundestagswahl. Dort sei halt die Linkspartei nicht so stark wie in Berlin, sagen dann diejenigen, die das Wahlergebnis in der Bundeshauptstadt verteidigen.
Tatsächlich kamen die Grünen vor allem in wirtschaftlich schlechter gestellten Milieus nicht an. In Wählerumfragen konnten sie bei den Themen soziale Gerechtigkeit, Arbeitsplätze und Wohnraum nicht punkten. Bei den Themen Wirtschaft, Verwaltung und Kriminalitätsbekämpfung auch nicht: Die grüne Partei verlor sogar Stimmen an die CDU.
Lehren für den Bund
Daraus kann die Bundespartei einige Lehren ziehen. Intern wird ziemlich deutlich über Fehler gesprochen. Die Konzentration auf die Verkehrspolitik mit Anti-Auto-Schlagseite habe geschadet, das wissen sie: Jarasch mag die Kernklientel angesprochen haben, die gern mal zu Fuß Eis essend über die Friedrichstraße in Berlin-Mitte schlendern will, die neu zur Fußgängerzone ausgerufenen wurde.
Die vielen potenziellen Wählerinnen und Wähler, die am oft nicht so gut angebundenen Stadtrand als berufstätige Eltern im Rushhour-Stau stehen oder sich in verspätete, überfüllte S-Bahnen quetschen, wird das herzlich egal gewesen sein. Manche Grüne, ob linkes oder Realo-Lager, ärgert der Kurs schon länger: Jarasch hätte die Strategie weiten müssen, heißt es da, weg von der Haltung der Kreuzberger Grünen, die eigentlich nur das bisherige Bündnis mit SPD und Linkspartei fortsetzen wollen.
Die grünen-interne Debatte wird auch in digitalen Netzwerken geführt: "Bitte jetzt keine Realo-Befeuerungen von der Außenlinie. Danke!" twitterte die grüne Ex-Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann, die sich für eine Fortsetzung des bisherigen Bündnisses stark macht. Tatsächlich sprach ihre Spitzenkandidatin auch stets im Wahlkampf vom Wunsch der Fortsetzung der "progressiven Koalition"- das heißt im Umkehrschluss: Schwarz-Grüne wäre per se nicht progressiv.
Nische oder Gemischtwarenladen?
Nicht nur die mit der Union regierenden Grünen in Schleswig-Holstein und Hessen dürfte das ärgern - oder das Kretschmann-Lager, das mit grünem Hut und der CDU als Juniorpartner das ehemals konservative Stammland recht geräuschlos regiert.
Es dürften auch einige grüne Strategen für falsch halten, gar als rückschrittlich. Denn die Bundespartei ist schon länger dabei, sich als eigenständige Kraft aufzustellen, die nicht nur zum Thema Klimaschutz und Ökolandbau etwas sagen kann. Wir müssen das volle Sortiment an Themen bieten, heißt es da - und ganz klar: In Berlin sei das nicht gelungen. Dazu gehöre auch, keine Angst vor Koalitionen mit der Union zu haben.
Wer ist heute noch politischer Gegner?
"Noch im Jahr 2011 waren damals führende Köpfe der grünen Bundestagsfraktion der Ansicht, dass eine Zusammenarbeit mit der Union auch in den Ländern ausgeschlossen werden müsse", schrieb der ehemalige Ex-Parteichef Cem Özdemir im Rückblick in einem Buchbeitrag 2020. Dagegen habe er sich mit Unterstützung von Habeck aber auch dem hessischen Grünen Tarek Al-Wazir, heute stellvertretender Ministerpräsident, gewehrt. Nicht zuletzt diese Eigenständigkeit habe die Grünen in mehr als zehn Landesregierungen geführt, so Özdemir.
Zudem, wer ist denn nun heute der politische Gegner? Schaut man sich den Zuspruch auf Bundesebene für SPD und Grüne an, tänzeln die beiden Farblinien stets umeinander herum - schon vor der Bundestagswahl 2021. Mal liegt die eine Partei in Führung, mal die andere. In Berlin kam es zu einem völligen Patt der beiden.
Wunschpartner oder Konkurrenten?
Und daraus sind dann durchaus Vorboten für die nächste Bundestagswahl herauszulesen. SPD und Grüne werden auch dort zu Konkurrenten, wenn sie es nicht schon sind. Beispiel: Die Konkurrenz um die außenpolitische Linie von Baerbock und SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz. Koalitionspartner, die annähernd auf Augenhöhe seien, erzeugten für sich selbst schwierige Verhältnisse, weil es auch ungeklärte Führungsfragen sind - so sieht es der Politologe Thorsten Faas im Interview mit den tagesthemen: "Weil es bei Parteien auch Begehrlichkeiten weckt, vielleicht beim nächsten mal selber an der Spitze zu stehen.“
Es spricht einiges dafür, dass die Grünen auch beim nächsten Bundestagswahlkampf nicht einfach für eine Wiederauflage der Ampel werben werden, sondern womöglich sogar versuchen, die bessere SPD zu sein - mit erneut eigener Kanzlerkandidatur (ob mit Baerbock oder Habeck - das ist dem Vernehmen nach noch offen). Und ohne Schwarz-Grün auszuschließen.
Dazu gibt es aus der Berliner Debatte heraus auch ein interessantes inhaltliches Argument: Die Grünen könnten über Umwelt- und Klimaschutz hinaus in einem Bündnis ohne SPD und Linkspartei besser mit sozialen Themen auffallen.